G20-Gipfel in Hangzhou: Wächst sich aus

Am Sonntag treffen sich die größten Wirtschaftsnationen in China, um die Weltkonjunktur anzukurbeln. Muss das sein?

Über Hundert Autos, die in Reihe und Glied auf einem Parkplatz in Hangzhou parken

Einige der Serviceautos, die während des kommenden G20-Gipfels im Einsatz sein werden Foto: reuters

PEKING/BUDAPEST/BERLIN taz | Eigentlich müsste es mit der Weltwirtschaft rund laufen. Die Zahl der Erdenbürger wächst jeden Tag um fast 220.000. Und je mehr Menschen auf der Welt leben, desto mehr Lebensmittel, Rohstoffe und Konsumgüter werden benötigt. Theoretisch. Gleichzeitig sind die Zinsen so niedrig wie nie, weltweit. Eigentlich wäre es billig, Schulden zu machen, zu investieren und Güter herzustellen für all die Menschen, die dazukommen. Theoretisch.

Die Weltwirtschaft wächst zwar, um 2,4 Prozent in diesem Jahr, schätzt die Weltbank. Aber unter Bedingungen, wie es sie noch nie gab. Die Zentralbanken fluten die Welt mit Geld, das niemand ausgeben will. Wer es hat, versucht, es irgendwo sicher zu bunkern, bietet es dem deutschen oder japanischen Staat an, die keine Zinsen mehr zahlen, sondern Geld dafür bekommen, wenn sie sich etwas leihen. In anderen Staaten sind die Zinsen lächerlich niedrig.

Zeitgleich gibt es die staatlichen und privaten Schulden. Die Welt besteht nur noch aus Gläubigern und Schuldnern. Wenn alle ökonomischen Kennziffern derartige Extremwerte annehmen, dann schwankt die Weltwirtschaft wie ein Schiff kurz vor dem Kentern. Und die Kapitäne sitzen an Deck und denken sich: Aber wir fahren immerhin noch. Mit 2,4 Prozent Wachstum im Jahr.

Das ist das Szenario, vor dem sich ab Sonntag die Kapitäne in der ostchinesischen Hafenstadt Hangzhou treffen. Dort kommen die Staats- und Regierungschefs, sowie die Notenbankchefs der 20 größten Volkswirtschaften zusammen. Sie suchen Auswege aus dem Wachstumsdilemma. China, erstmals Gastgeber des G-20-Gipfels, hat eine „gemeinsame Initiative“ angekündigt.

Degrowth in Budapest

Am anderen Ende der Welt, in Budapest, geht am Samstag eine Konferenz zu Ende, die gegensätzlicher kaum sein könnte. Auf der fünften internationalen Degrowth-Konferenz kamen 400 Ökonomen, Soziologen, Philosophen, Aktivisten und Studenten zusammen, die im Prinzip sagen: Ist doch gut, wenn die Wirtschaft nicht mehr wächst. Sie stehen in der Tradition der langjährigen Kritik am Paradigma des ewigen Immer-mehr, das seinen Ausgangspunkt in den siebziger Jahren nahm, als der Club of Rome die „Grenzen des Wachstums“ ausrief, weil die Ressourcen der Erde begrenzt sind.

Diese Erkenntnis ist heute Mainstream: All die Staatschefs, die sich nun treffen, haben sich vergangenes Jahr dazu verpflichtet, die Weltwirtschaft von Kohle, Öl und Gas wegzuführen und das Klima zu schützen. Quasi nebenbei sollen bis 2030 Armut und Hunger besiegt sein.

„Wir schaffen das“ – wirklich? Flüchtlinge in Deutschland haben das Jahr nach dem Merkel-Versprechen unterschiedlich erlebt. Wie unter Flüchtlingen im vergangenen Jahr eine Klassengesellschaft entstanden ist, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 3./4. September. Außerdem: Die Jenischen wollen ein Kulturzentrum in Singen. Wer sind sie? Und: Mutter Theresa wird heiliggesprochen. Unser Autor erklärt, warum das gut ist. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Nur wie? China sagt, auf dem Gipfel gehe es um „integratives Wachstum“ und eine „Vertiefung des Freihandels“. In Budapest geht es um Zeitwohlstand, Entschleunigung und Konvivialismus, eine Art „neue Philosophie und Kunst des Zusammenlebens“, wie es in einem Manifest heißt. Damit wolle man „das Primat des Ökonomischen brechen“.

Blickt man nach China, scheint diese Vision unendlich weit entfernt. Was dort beschlossen wird, ist noch nicht bekannt, doch allzu viel erwarten Beobachter nicht. Dabei haben die G-20-Chefs ihre Runde im Zuge der großen Finanzkrise 2009 bewusst aufgewertet und sie zum zentralen Gremium erklärt, mit dem sie die drängendsten Probleme der Weltwirtschaft lösen wollen.

Lockere Geldpolitik, niedrige Zinsen

Stattdessen springen die Notenbanken der Volkswirtschaften ein, setzen auf eine lockere Geldpolitik mit niedrigen Zinsen, überschwemmen die Märkte mit Geld – und lösen weltweit einen Abwertungskampf um die billigste Währung aus. Dazu kommt der Wettbewerb der Staaten um niedrige Steuersätze für Großunternehmen.

Dem entgegenzuwirken hat sich Deutschland zwar zum Ziel gesetzt, wenn es im nächsten Jahr die G-20-Präsidentschaft übernimmt. Aber die Erfolgsaussichten scheinen minimal. EU und USA kommen sich derzeit schon ins Gehege, wenn es darum geht, Apple mit mehr als 0,005 Prozent zu besteuern.

Auf der Degrowth-Konferenz in Budapest haben sie auf solche aktuellen Probleme keine Antworten. Das ist auch gar nicht ihre Aufgabe, sagen viele. Aber zumindest bei der Analyse der aktuellen Lage treffen sich die Degrowth-Leute und ein Teil der Ökonomen, auf die auch G-20-Chefs hören.

Giorgos Kallis, ein ökologischer Ökonom aus Barcelona, der beim Eröffnungsplenum in Budapest sprach, glaubt nicht, dass das heutige kapitalistische System freiwillig auf Wachstum verzichten wird. Aber die konventionellen Ökonomen hätten erkannt, dass das Wachstum sich seinem Ende zuneigt, sagt er. Sie suchen jetzt nach Wegen, um die Maschine wieder anzukurbeln. Er hofft auf Politiker und Ökonomen, die nach Jahren der Stagnation etwas Neues vorschlagen. Die Degrowth-Bewegung könnte dafür ein Ideengeber sein.

Höhere Löhne und Investitionen

Anstatt in neue Maschinen und den Bau neuer Fabriken fließt ein Großteil der Geldschwemme in die Immobilien- und Aktienmärkte und sorgt für neue Spekulationsblasen. Die Realwirtschaft dümpelt vor sich hin. Die breite Bevölkerung hat nichts davon.

Steffen Lange, Volkswirt am Berliner Institut für ökologische Wirtschaftsforschung, ist ebenfalls in Budapest. Er glaubt nicht, dass man durch das billige Geld die Stagnation überwindet, selbst wenn man auf Wachstum setzt. Das Problem könne man nur lösen, wenn das Geld an die gelangt, die es auch ausgeben, sagt er. Möglichkeiten gibt es viele: Höhere Löhne, höhere staatliche Investitionen – in Bildung zum Beispiel oder die Energiewende.

Degrowth bedeutet nicht, das alles überall schrumpft. Es soll auch fairer zugehen. Weil Fairness fehlt, bringt übrigens auch das Bevölkerungswachstum kein ökonomisches Wachstum: Mehr Einwohner gibt es fast ausschließlich in armen Entwicklungsländern. Und bei denen kommt die Geldschwemme nicht an.

Das ganze Dilemma zeigt sich nicht zuletzt beim G-20-Gastgeberland China selbst. Mehr als 20 Jahre wuchs die Wirtschaft des Landes fast durchgehend zweistellig, damit trug es am meisten zur Expansion der Weltwirtschaft bei. Seit einigen Jahren sind es nur noch sechs bis sieben Prozent.

Überkapazitäten in China

In den Industrieländern klingen diese Zahlen zwar traumhaft. Doch für China könnten sie zu gering sein: Sie kommen dadurch zustande, dass jährlich Millionen von Menschen in die Städte ziehen. Die gesamte Wirtschaftspolitik der chinesischen Führung ist darauf ausgerichtet, ehemaligen Bauern dort Arbeitsplätzen zu verschaffen. Bleibt das hohe Wachstum aus, drohen soziale Spannungen.

Deshalb hat die chinesische Führung der Zentralbank angeordnet, vor allem den großen Staatsunternehmen großzügig Kredite zu gewähren. Das sorgt für gewaltige Überkapazitäten. Vor allem die chinesischen Stahlunternehmen veräußern ihre Waren inzwischen zu Schleuderpreisen und ruinieren damit auch die Stahlwerke in Europa, Japan und Nordamerika. Chinas Wachstum ist, abgesehen von den enormen Umweltproblemen, die es verursacht, global gesehen ein Scheinwachstum, weil es Fabrikruinen produziert. Die Europäer wollten die Überkapazitäten zwar beim G-20-Gipfel ansprechen, doch die Chinesen haben das Thema von der Agenda gestrichen.

Zugleich fürchtet China mehr noch als andere Staaten, dass die US-Notenbank Fed aus ihrer Niedrigzinspolitik aussteigen könnte. Dann fließt das Kapital Richtung USA, weil es dort mehr Rendite gibt – und weg von den Schwellenländern. Als die Fed ihre Leitzinsen im vergangenen Jahr von nahezu Null um 0,25 Prozentpunkte anhob, war der Tumult an den chinesischen Börsen so groß, dass zeitweise der Handel ausgesetzt werden musste.

Die Gesellschaft ist gesättigt

Europa droht möglicherweise ein ähnliches Schicksal wie Japan: Seit mehr als 20 Jahren wächst die Wirtschaft dort kaum noch, obwohl die Zinsen extrem niedrig sind und die Zentralbank den Kurs des Yen drückt, um den Export anzukurbeln – eben die Rezepte, die in Europa gerade die Europäische Zentralbank versucht. Mit Schulden, die 244 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachen, ist Japan heute so hoch verschuldet wie kein anderes G-20-Land. Premierminister Shinzo Abe lässt immer mehr Brücken, Hochgeschwindigkeitsstrecken und Flughäfen bauen – aber die Gesellschaft ist gesättigt, die Wirtschaft stagniert.

Ist das nicht schon der Anfang vom Ende des Wachstums? Viele Degrowth-Vordenker halten das für zu kurz gedacht – aber ein Zeichen ist die Entwicklung allemal. Dafür, dass die herkömmlichen Instrumente, die Wachstum ankurbeln sollen, nicht mehr funktionieren.

„Die Transformation wird sich aus einer längeren Stagnation ergeben“, sagt Giorgos Kallis in Budapest.

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