Schwäche wird zur Stärke

Tennis Angelique Kerber, die neue Nr. 1 der Weltrangliste, gewinnt dank ihrer mentalen Kraft auchdas enge US-Open-Finale gegen die Tschechin Karolina Pliskova und krönt eine perfekte Saison

Energiezehrend: Kerber bis an ihre Grenzen gefordert Foto: dpa

NEW YORK taz | Wo kann diese Geschichte über die neue Tennis-Königin von New York anfangen? Vielleicht am besten noch einmal mit dem Anfang dieses Jahres, in einem Moment, in dem vieles, wenn nicht alles noch einmal auf der Kippe stand. Es war bei den Australian Open, Angelique Kerber spielte nach einem verpatzten Grand-Slam-Jahr 2015 in der ersten Runde gegen die Japanerin Misaki Doi. Das Duell wurde zur einzigen Zitterpartie, Kerber musste sogar einen Matchball abwehren, um die nächste Pleite zu verhindern. Kerber, seinerzeit die Nummer elf der Rangliste, siegte dann aber gegen Doi, sie siegte weiter, immer weiter, bis sie im Finale über Serena Williams triumphierte.

Und mit dem Siegen hörte es nicht auf in dieser Saison. Auch nicht in New York, beim spektakulärsten aller vier Major-Wettbewerbe im Tennis-Zirkus. So wie das Jahr der Jahre in Kerbers turbulenter Karriere begann, mit einem dramatischen Auftritt auf großer Bühne in Melbourne, so endete es vorerst auch im größten Tennisstadion der Welt, der Arthur-Ashe-Arena zu New York: Mit einem nervenzehrenden Drei-Satz-Krimi. Und mit einem Entfesselungsakt von Kerber, die den Sprung auf Platz eins der Weltrangliste mit dem 6:3, 4:6, 6:4-Endspielsieg gegen die tüchtige Karolina Pliskova vergoldete. „Alle Träume sind in diesem Jahr für mich in Erfüllung gegangen“, sagte Kerber später, „es ist unglaublich, was passiert ist.“

Dieses Finale furioso von Kerber hätte nicht typischer sein können für all das, was in diesem Jahr für und mit der Deutschen passierte. Denn die Aufholjagd im letzten aller New Yorker Tennismatches stand nicht nur symbolisch für die unverdrossene Kämpfermentalität Kerbers, für ihren Beharrungswillen, sondern auch für eine in den letzten Monaten erworbene Routine und Souveränität, mit kritischen Situationen umzugehen. Selbst bei einem 1:3-Rückstand im dritten Satz erfasste die Kielerin keine Panik, stattdessen bog sie die Partie noch um.

Als Kerber bei den Australian Open gewann, hielten das viele in der Branche noch für einen Zufallstreffer, schließlich gilt das Turnier in Melbourne, früh in der Saison, als Geburtsstätte auch vieler überraschender Champions. Kerber hat die meisten Spiele in dieser Saison gewonnen, sie stand in drei Grand-Slam-Finals (Melbourne, Wimbledon, New York), und sie hat in 20 Drei-Satz-Matches nicht weniger als 15 Mal gesiegt. Was einmal ihre Schwäche war, das mentale Spiel, ist nun ihr großes Plus. Kerber gewinnt fast immer, wenn es heikel, bedrohlich und gefährlich wird, sie ist auch und besonders die erfolgreiche „Thriller-Queen“ (Tennismagazin Australien). „Ich weiß, dass ich immer eine Chance habe. In jedem Spiel, in jeder Lage“, sagt Kerber. So wie auch gegen Pliskova, in diesem dritten Finalsatz, in dem alles verloren schien. Und in dem Kerber dann noch einmal die allerletzten Energien mobilisierte, Kräfte und Potenziale, die „von irgendwoher“ kamen aus einem von Hitze und Wettkampfstress schon ermatteten Körper. „Das war eins der schwersten Spiele überhaupt. Das war am absoluten Limit“, sagte sie hinterher, überglücklich und auch „ziemlich erschöpft“.

Erwachsener als in diesem Finale, dem letzten Spiel dieser Grand-Slam-Saison hätte Kerber gar nicht wirken können – eine souveräne, gereifte, in sich ruhende Persönlichkeit. „Sie hat sich diese Stärken schwer erkämpft“, sagt die große Vorgängerin Steffi Graf über Kerber. Fast neun Wochen war Kerber zuletzt unterwegs. Rio, Cincinnati und New York waren die letzten Stationen. Nun aber, nach den New Yorker Feierlichkeiten, braucht Kerber eine dringende Pause, eine wohlverdiente Auszeit. Nach ganz viel Tennis, nach großem Tennis pausenlos, sagt Kerber, „will ich jetzt mal ein paar Tage keinen Schläger mehr sehen“.

Jörg Allmeroth