Biotop im Neuen Deutschland

Im Plattenbau des „Neuen Deutschland“ am Ostbahnhof hat sich eine illustre Mischung eingemietet: Kommunisten, Kreative, Vermögensberater. Nun kehren auch die Redakteure zurück

„Da sind auch total exotische Typen drin, das find ich schon ganz cool“„Im Moment würde kein Mensch das Haus nehmen, nicht mal geschenkt“

VON JOHANNES GERNERT

In der dritten Etage des ehemaligen und zukünftigen Redaktionsgebäudes des Neuen Deutschland am Franz-Mehring-Platz 1 riecht es sehr stark. Nach Putzmittel auf PVC-Fußbodenbelag. Irgendwie muffig riecht es und ein bisschen nach Schnaps. Die Handwerker haben schon Feierabend gemacht. Walter Grenzebach schaut auf die Risse im bräunlichen Bodenbelag, auf die speckig-dreckige Wandfarbe. „Riecht förmlich nach DDR“, brummelt er in seinen Bart. Er geht ein paar Schritte den Gang hinunter. „Dieser Korridor“, sagt er, „ist in mindestens 25 Zeitungsartikeln beschrieben worden.“ Riecht nach DDR, auf diesen Nenner haben es die meisten gebracht. Sie haben Mief gemeint – Gestank. Grenzebach wiederholt das ein paar Mal. Riecht nach DDR. „Na gut“, sagt er dann energisch und angriffslustig. „Warum nicht.“ Für ihn wäre es eher ein Duft, wenn es ihn tatsächlich gäbe, diesen DDR-Geruch.

Walter Grenzebach war ein Überbleibsel. Jetzt ist er zur Vorhut geworden. Er hat in dem grauen Gebäude am Ostbahnhof ausgeharrt all die Jahre, als ständige Vertretung des Neuen Deutschland – zuletzt im Keller. Die Redaktion und der Verlag sind nach Alt-Stralau, aber Grenzebach wollte nicht mit. Der neue Sitz am Treptower Park lag ihm zu weit draußen, zu abgeschieden. Er hat wohl auch gedacht, dass es hier etwas zu verteidigen gibt. Zum Monatsende kommt die Redaktion zurück, der Umzug beginnt am 28. Oktober. Und er ist schon da, immer noch da.

Sein weinroter Polsterstuhl steht in einem eher entlegenen Winkel, gleich hinter dem Heizungskeller mit den Öltanks und den dicken Röhren an der Decke. Hier sitzt er, oft bis spät in die Nacht, vor einer braunen Tür: „Werkstatt/Hausverwaltung“. Auf Klapptischen liegen Ausgaben des Neuen Deutschland, der Jungen Welt, PDS-Flyer aus dem Wahlkampf, an einem Tisch lehnt eine aufgerollte rote Linkspartei-Fahne. Walter Grenzebach, Jahrgang 1943, hat eine rote Latzhose an, karierte Pantoffeln und ein kariertes Hemd. Er sieht aus wie der Hausmeister. Aber er ist Werbefachmann, „Verlag ND, Mitarbeiter ÖA/Werbung/Veranstaltungen“. So schreibt er es auf. Seine Visitenkarte ist ein Zettelchen mit einer Telefonnummer und einer Zeichnung: Ein Mann mit Vollbart und Latzhose, in der Tasche eine Nummer des Neuen Deutschland, pflügt ein Feld. Daneben steht: „ackern, ackern, ackern. Walter“.

Manche sagen: Im Bürohaus am Franz-Mehring-Platz wächst zusammen, was zusammen gehört. Der ganz alte Osten mit dem allerneuesten Westen. Kommunisten und Kreative steigen die selben Stufen im Treppenhaus empor. Ehemalige DDR-Grenzer und NVAler verteidigen verbissen ihre Renten und Rechte, während über ihren Köpfen die OVB Vermögensberatung eine Optimierung der persönlichen finanziellen Verhältnisse verspricht. „Der Osten von vor 89 und das Hippste, was es an Modernem gibt“, so beschreibt Dietmar Bartsch die Büromieter. „Da sind auch total exotische Typen drin, das find ich schon ganz cool, keine Frage.“

Bartsch war Bundesgeschäftsführer der PDS und Bundestagsabgeordneter. Als seine Partei vor drei Jahren die Fünfprozenthürde riss, wurde er Geschäftsführer des Neuen Deutschland. Dass die stark geschrumpfte Redaktion nun zurückziehen kann in einige ihrer alten Redaktionsräume, empfindet er als Genugtuung – ein Symbol, ein politischer Sieg. Das Grundstück, auf dem das Bürohaus steht, gehörte einmal der Reichsbahn. 1953 gab es einen Überlassungsvertrag. Nach der Wende wollte die Bahn das Gelände wiederhaben. Sie bekam recht und dann auch wieder nicht. Schließlich hat sich das Neue Deutschland durchgesetzt. Zurzeit wird mit Bankkrediten renoviert. Irgendwann, wenn alles fertig ist und man mit Immobilien wieder mehr Geld verdienen kann, soll es verkauft werden. „Im Moment würde das Haus kein Mensch nehmen, nicht mal geschenkt“, sagt Bartsch.

In der dritten Etage des ehemaligen und zukünftigen Redaktionsgebäude des Neuen Deutschland riecht es auch nach Farbe. Weiße, frisch gestrichene Wände. Einige ältere Männer betreten die Büroräume von Isor. Das Kürzel steht für „Initiativgemeinschaft zum Schutz der sozialen Rechte ehemaliger Angehöriger bewaffneter Organe und der Zollverwaltung der DDR“. Manche haben Hornbrillen auf. Ihre Kleidung beweist: Es gibt wesentlich mehr Grautöne als man gemeinhin annimmt. Isor setzt sich für ihre Renten ein und vertritt „die Genossen aus der NVA“. So nennt Walter Grenzebach die älteren Herren in Grau.

Ein paar Türen weiter wäscht Juliane Hundertmark ihre Pinsel aus. Ein dicker Mann trägt eine Kaffeekanne mit Wasser ins Büro gegenüber. Die Malerin will bald ausziehen und sich anderswo ein neues Atelier suchen. Ihre Bilder gehen ganz gut. Einige stapeln sich in der Ecke. Ganz vorne liegt eins mit einem roten, expressionistischen Auto. Der Platz wird knapp. Sie kann sich jetzt was Größeres leisten. Ein Grund, warum es viele in das ND-Gebäude zieht, sind die niedrigen Mieten. Deshalb hat auch Juliane Hundertmark vor einigen Jahren ihre Staffage hier aufgestellt. Der graue Betonklotz, der Wohnblock gegenüber, direkt vor ihrem Fenster, stört sie nicht. Künstler hätten nie die tollste Aussicht, weil sie meist billige Räume bräuchten. Und außerdem sei da sogar ein Baum, sagt sie. Dann muss sie einen Kunden empfangen. Ihr Atelier ist auch ein Geschäft, eine winzige Galerie.

Der dicke Mann macht vorsichtig die Tür zur Casting-Agentur auf. Bernhard Christiani ist Praktikant, seine Chefin ist gerade nicht da. Er jobbt als Komparse und bald bekommt er auch eine Anstellung in dem kleinen Büro, das Statisten für Filme und Fernsehserien vermittelt. Vor kurzem hat er einen Koch gespielt. „Das beste am Schwein liegt in seiner Lende“, hat er da gesagt. Dann sei er abgemurkst worden. Bernhard Christiani wirkt nicht wie ein Praktikant. Sein Bart ist ein bisschen zu grau. Eigentlich war er einmal Kraftfahrer. Jetzt ist er schwerbeschädigt. „Zu 50 Prozent“, sagt er. Mehrere Unfälle, Wirbelsäulenschaden, Rücken verschoben. Er ist Krankenwagen gefahren, aber dabei ist es gar nicht passiert. Es war auf dem Weg zur Arbeit, er saß auf dem Fahrrad. Er zieht ein Bein seiner Jeans hoch: eine rot-bläulich zerfurchte Kraterlandschaft. „Was soll ich machen?“, fragt Christiani und sieht dabei eigentlich viel zu vergnügt aus.

In der dritten Etage des ehemaligen und zukünftigen Redaktionsgebäude des Neuen Deutschland, wo es nach DDR riecht, ist auch der Kommunismus zu Hause. Hier haben die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) und die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) ihre Räume – an jeweils entgegen gesetzten Enden des Ganges. Bei der DKP arbeiten einige Frauen unter dem strengen Blick Lenins an der neuesten Ausgabe des Berliner Anstoß, der Parteibezirkszeitung. Bei der 1990 wieder gegründeten KPD blickt Lenin ebenso streng, neben ihm hängt eine rote Flagge, darunter steht der Vorsitzende der Kontroll- und Schiedskommission, nach eigener Auskunft zuständig für „Ordnung und Sicherheit in der Partei“. Der Raum der KPD ist nicht klein. Dennoch wird er zu 90 Prozent von einem ovalen Konferenztisch ausgefüllt. Um diesen Tisch müssen alle Mitglieder der KPD laufen, wenn sie ans andere Ende des Zimmers wollen. Der Tisch bei der DKP ist etwas kleiner und lässt deutlich mehr Bewegungsfreiheit. Aber es ist auch nur der Tisch eines Landesverbandes, nicht der Bundespartei. Bei der KPD geht die Tür auf und ein Mann mit Glatze stürmt herein.

„Das ist der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Deutschlands“, informiert der Vorsitzende der Kontroll- und Schiedskommission. „Ach nee, das geht nicht“, sagt der KPD-Vorsitzende etwas genervt. Keine Zeit für Interviews. Hinter ihm betritt ein „Genosse von der koreanischen Botschaft“ die Parteizentrale. Es folgt eine Besprechung am großen Konferenztisch.

Im fünften Stock des ehemaligen und zukünftigen Redaktionsgebäudes des Neuen Deutschland riecht es nach Espresso. Die jungen Kreativen an ihren Computern waren etwas überrascht, als der Mann mit der Latzhose und dem großen Bart angeklopft hat. Natürlich kann er reinkommen. Walter Grenzebach steht neben der Espressomaschine und schaut auf die verfallenen Druckereihallen hinter dem Hochhaus. Es dämmert. 1967 hat er beim ND angefangen. Eine seiner ersten Aufgaben hieß: Auflage auf über eine Million steigern. Eine Million und Hunderttausend haben sie geschafft. Grenzebach stand „auf der Matte“, überall, wo man das ND noch nicht las. 15 Pfennig hat es gekostet, von der ersten Ausgabe 1946 bis zur vorerst letzten 1989. 3,50 Mark im Monatsabo. Als in der DDR das Papier knapp wurde, mussten sie sich drum kümmern, dass die Auflage wieder sank. Nach der Wende ist sie dann von ganz alleine gesunken. Auf 50.000 Exemplare. Es sei damals nicht ganz gelungen, die alten Leser mit den neuen Inhalten nicht zu verprellen. „Jetzt bin ich ein überparteilicher, freier Journalist“, hätten viele gesagt und dann den Stasi-Leuten eine drüber gebraten, der NVA eine drüber gebraten, der Volkspolizei, den FDJlern. Seine Liste wird immer länger, allen eine drüber gebraten. Wenn man die alle abzöge von der Auflage, sagt Grenzebach, landete man da, wo man heute angekommen ist.

Er hat es damals gleich gewusst: „Der Scheiß-Kapitalismus, der auf uns zukommt, das wird das Letzte.“ Als der Ärger mit der Treuhand und mit der Bahn anfing, hat er gesagt: „Was soll denn das, wer will uns denn hier plattmachen? Das sind unserer Arbeitsplätze, das ist unser Haus, mit meinen Parteibeiträgen bezahlt und mit meinen Steuermitteln.“ Also ist er einfach dageblieben, in seiner Nische im Keller, in dem grauen Gebäude mit dem DDR-Duft, an dem langsam Efeu hochklettert. In dem grauen Gebäude, in dem aber inzwischen auch der Geruch von Espresso Einzug hält.