Da schwingt allerlei mit

VERWIRRT Winfried Kretschmann lobt in einem Beitrag für die „Zeit“ die klassische Ehe und beschuldigt Homo-, Trans- und Asexuelle indirekt des Egoismus. Eine Klarstellung

Brett vorm Kopf, Herr Kretschmann? Foto: Marijan Murat/dpa

von Paul Wrusch

Winfried Kretschmann, Grüner Ministerpräsident in Baden-Württemberg, äußert sich zur Lage der Nation – und macht große Teile seiner Partei damit wütend. In seinem Gastbeitrag für die Zeit schreibt er dies und das über den bröckelnden Zusammenhalt der Gesellschaft, über Rechtspopulisten, über die Versäumnisse seiner eigenen Partei. Er wirft den Grünen „Besserwisser-Gestus“ vor, macht sie indirekt mitverantwortlich für den AfD-Erfolg und fragt sich, wie mit den Herausforderungen umzugehen sei. Einiges davon ist sinnvoll, einiges sinnfrei und manches schlicht ätzend.

Bemerkenswert ist besonders ein Absatz, in dem Kretschmann sich über die Lebensgestaltung von Menschen Gedanken macht. Um seine Aussagen zu verstehen, sei hier ausführlich zitiert:

„Außerdem müssen wir deutlich machen, dass die neuen Freiheiten in der Lebensgestaltung ein Angebot und keine Vorgabe sind. […]Es geht darum, dass jeder nach seiner Fasson leben kann und nicht darum, traditionelle Lebensformen abzuwerten oder die Individualisierung ins Extrem zu treiben. Individualismus darf nicht zum Egoismus werden, sonst wird gesellschaftlicher Zusammenhalt unmöglich. So ist und bleibt die klassische Ehe die bevorzugte Lebensform der meisten Menschen – und das ist auch gut so.“

Individualismus darf nicht zum Egoismus werden. Ja, kann man so sehen. Kretschmann schließt allerdings an mit einem Lob der „klassischen Ehe“, lässt „bestehend aus Mann und Frau“ freundlicherweise weg – endet jedoch mit dem historischen Wowereit-Coming-out-Zitat „Und das ist auch gut so“. Mit dieser perfiden Instrumentalisierung zeigt er deutlich, wer gemeint ist. Die Homos. In Kretschmanns Sätzen schwingt allerlei mit: ein „Nun ist aber auch mal gut mit diesem ganzen Homo-Zeugs“. Und ein „Die Ehe besteht aus Mann und Frau“. Weiter lässt sich daraus lesen, dass Homosexuelle, Transsexuelle, Asexuelle und alle anderen, die nicht die klassische Ehe bevorzugen, nicht nur Individualisten sondern gar Egoisten sind. Und dass sie sich frei entschieden haben, etwa homosexuell zu sein – und so den gesellschaftlichen Zusammenhalt unmöglich machen.

Wir Homosexuelle nehmen euch nichts weg. Wir werten euch nicht ab. Wir machen niemanden schwul

Kretschmann bedient sich damit dem klassischen Repertoire homophober Propaganda von rechts. Homos, die die „Verschwulung“ der Gesellschaft vorantreiben wollen, Egoschweine sind, keine Kinder in die Welt setzen (sollen). Dutzendfach gehört von Elsässer und Pirinçci, von Evangelikalen in Baden-Württemberg – und von der AfD. Hat nicht nur die Linkspartei derzeit ein Problem mit der Abgrenzung nach rechts? Am Donnerstagnachmittag hat sich Kretschmann bei Facebook noch einmal ausführlich zu seinem Beitrag und der Aufregung geäußert: Er sei missverstanden worden, schreibt er. Er möchte die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare öffnen.

Dennoch Herr Kretschmann, nur zur Klarstellung: Wir Homosexuelle nehmen euch nichts weg. Wir werten euch nicht ab. Wir machen niemanden schwul oder lesbisch. Manche von uns sind egoistisch, viele nicht. Manche sind individuell, viele Mainstream. Manche wollen heiraten, viele nicht. Und niemand von uns hat sich seine Homosexualität ausgesucht. Wenn das ginge: sich frei zur sexuellen Identität zu entscheiden, würden sich viele erneut dafür entscheiden. Und das ist ziemlich gut so.