In der kommunistischen Kirche aufgewachsen

Auftritt Vor vollem Haus stellte Wolf Biermann im Berliner Ensemble seine Autobiografie „Warte nicht auf bess’re Zeiten“ vor

Wolf Biermann mit Buch statt Gitarre Foto: Jörg Carstensen/dpa

von Detlef Kuhlbrodt

Es ist halb acht im Berliner Ensemble am Schiffbauerdamm. Ab acht wird Wolf Biermann seine Autobiografie „Warte nicht auf bess’re Zeiten“ vorstellen. Die Veranstaltung ist ausverkauft.

Ich hatte Biermann vor 40 Jahren kennengelernt. Meine große Schwester hatte in ihrem Zimmer gern Leonard Cohen, Uriah Heep, Joan Baez, Melanie und Wolf Biermann gehört. Später hatten wir alle vor dem Fernseher gesessen und uns sein berühmtes Kölner Konzert angeschaut. Es war so ähnlich wie bei der Mondlandung, ein Fernseherlebnis für die ganze Familie.

Man sitzt etwas eng im Berliner Ensemble. Auf der Bühne stehen links drei Stühle, ein kleiner Beistelltisch und das aktuelle Biermann-Foto, rechts ein Lesepult. Einleitende Worte vom Verlag. „Froh und dankbar, dass wir diesen großen Fisch ans Land gezogen haben“, ein Buch, „das es nur alle zehn Jahre gibt“. Schon jetzt gehöre „Warte nicht auf bess’e Zeiten“ zum Kanon der großen Memoirenwerke unserer Zeit“. Kurz überlegt man sich, welche zeitgenössischen Werke noch zu diesem Kanon gehören und kommt nur auf Florian Havemanns irres Buch „Havemann“, in dem einige der Szenen des Biermann-Buches aus einer anderen Perspektive beschrieben sind.

Stefan Aust, der mittlerweile bei der Welt gelandet ist, liest ein Überwachungsgedicht vor, das sich in den 50.000 Stasi-Seiten über Biermann fand:

„Biermann macht Geschlechtsverkehr mit einer Dame.

Es ist Eva-Maria Hagen.

Danach fragt er sie, ob sie etwas trinken möchte.

Aber die Dame hat Hunger.

Danach ist Ruhe im Objekt.“

Als Biermann die poetische Mehrfachbedeutung des Objekts erläutern möchte, unterbricht ihn Aust: „Wir sind hier nicht im amerikanischen Wahlkampf.“

Von Weitem sieht der 79-Jährige noch jung aus. Leider hat er sich am linken Zeigefinger verletzt und kann nicht spielen. Manchmal sagt er Sachen wie „da blieb ihm nichts anderes ulbricht“ und einmal auch „Murxismus“.

Der Schauspieler Burghart Klaußner trägt eine Szene vor, in der die Mutter mit dem vierjährigen Sohn den kommunistischen Vater im Zuchthaus besucht. Der Sohn soll dem Vater ein Lied singen. Er singt: „Hörst du die Motoren brüllen: Ran an den Feind / Hörst du die Motoren brüllen: Ran an den Feind / Booomben! Booomben! / Bomben auf Engellant, Bumm! Bumm!“

Später hatte sich Bierman dafür geschämt. Die Mutter sagte, der Vater, der 1943 als Jude in Auschwitz ermordet worden war, habe gegrinst. Man ist erstaunt, wie detailreich sich Biermann an die Bombennächte in Hamburg erinnert.

„Ich bin in der kommunistischen Kirche aufgewachsen und habe immer die Oblate auf der Zunge gehabt, die ich nie essen wollte“, sagt Biermann. Die Oblate ist ein Leitmotiv der ersten Kapitel. Mal sind es Zuckerstücke, die der kleine Junge jeden Morgen in seinem Leiterwägelchen findet – die Mutter sagt, der abwesende Vater hätte sie mit dem Mondstrahl geschickt –, dann die Bonbons, die die Mutter dem inhaftierten Vater zusteckt, auf dass er sie dem Sohn schenke.

Dann liest Klaußner vor, wie der 16-jährige Biermann gerade in der DDR angekommen ist. „Es war damals unter Genossen Mode, die eigene Brut in die DDR zu schicken.“ In Hamburg war er der schlechteste Schüler gewesen. In der DDR sollte er lernen, wie man den Kommunismus aufbaut. „So ging ich wohlgemut in den Osten und wunderte mich, dass mir so viele Leute entgegenkamen.“

Die Passage handelt von einer Vollversammlung seiner neuen Schule in Gadebusch. Evangelische Schüler sollen der „Neuen Gemeinde“ abschwören. Ein Mädchen weigert sich und sagt: „Ich glaube an Gott. Ich trete nicht aus der Jungen Gemeinde aus.“ Instinktiv stellt sich der junge Biermann an ihre Seite: „Ich bin Kommunist (. . .) Aber das, was hier gemacht wird, das ist . . . kein Kommunismus! . . . Dafür ist mein Vater nicht in Auschwitz gestorben, damit hier dieses Mädchen so unterdrückt wird!“

Dann gibt es eine Aufnahme von 1962. Der junge Biermann trägt sein Gedicht „An die alten Genossen“ in der Akademie der Künste vor. Klaußner liest eine Passage, die wenig später spielt und von den zwei schönen Jahren handelt, in denen Biermann mit Schauspielern und Musikern am Projekt des b.a.t. (Berliner Arbeiter- und Studententheater) arbeitet, und dann noch eine von Margot Honecker, die den jungen Dichter zurück auf den Pfad der Tugend bringen möchte.

Man spricht über das berühmte Kölner Konzert. Biermann erzählt von seinem Vater, dessen Anwesenheit er während des Konzerts fühlte. Ab und zu unterbricht Aust Biermann, der in Redelaune ist. Eigentlich hätte man ihm noch gern weiter zugehört. Eigentlich ist es auch schade, dass das Buch nicht noch länger ist. Dann ist die überraschend harmonische Veranstaltung auch schon zu Ende. In langer Reihe stehen die Zuschauer, um sich ihre Exemplare signieren zu lassen.