Massenmörder drängt in Kabuls Parlament

In Afghanistan wirft der Fund eines Massengrabs einen Schatten auf einen Kandidaten der Parlamentswahl

„Nicht einmal hohe Regierungsbeamte können wagen, die Wahrheit zu sagen“

SCHARANA taz ■ Die Landschaft ist flach und sonnenverbrannt in Sra Qala (Rotes Fort), einem Vorort Scharanas, dem Hauptort der südöstlichen Provinz Paktika. Der Wind häuft hier Sand zu Wanderdünen auf. Der Graben ein paar hundert Meter neben der Hauptstraße fiele nicht weiter auf, lägen darin nicht zerfetzte und ausgeblichene Lumpen, Knochen und Zähne.

Der Graben ist ein Massengrab. Augenzeugenberichte und Angaben von Gouverneur Gulab Mangal deuten darauf hin, dass es von 1989 stammt und zwischen 300 und 550 Leichen von Soldaten der Garnison von Urgun enthält, einer Kreisstadt 50 Kilometer von der pakistanischen Grenze entfernt.

Urgun war damals im Südosten eine der letzten Bastionen der Kabuler Regierung von Präsident Nadschibullah. Das Gebiet war kurz nach dem Abzug der sowjetischen Besatzungstruppen im Februar 1989 zur „demilitarisierten Zone“ erklärt worden. Es gehörte zur Strategie Nadschibullahs, der nun ohne die direkte Hilfe seiner sowjetischen Verbündeten zu überleben versuchte, den Mudschaheddin eine Machtbeteiligung anzubieten und ihnen dafür die Kontrolle über bestimmte Territorien zu überlassen. Kurz zuvor hatte er gar Mehrparteienwahlen veranstaltet und Parlamentssitze für die Mudschaheddin reserviert.

Die lehnten ab und ließen auch die Urguner Garnison nicht ungeschoren abziehen. Auf ihrem Rückzug wurden die Soldaten, die ihre Waffen bereits abgegeben hatten, bei Scharana gestellt. Laut Wazir Gul (Name geändert), einem Polizeioffizier aus Scharana, waren Mudschaheddin von drei Parteien beteiligt. Dies will er von zwei Augenzeugen erfahren haben, die sich jetzt aus Angst bedeckt halten. „Nicht einmal hohe Regierungsfunktionäre können es wagen, die Wahrheit zu sagen“, kommentierte die unabhängige Nachrichtenagentur Pajhwok.

Während der örtliche Kommandeur einer gemäßigten royalistischen Miliz 150 bis 250 Soldaten als Gefangene nach Pakistan bringen ließ, entschlossen sich die Kämpfer der fundamentalistischen Bewegung für die Islamische Revolution (kurz Harakat) und der Islamischen Partei (kurz Hezb) – die heute die Karsai-Regierung bekämpfen – kurzen Prozess zu machen. Der örtliche Hezb-Richter verurteilte die Gefangenen zum Tode. In Gruppen von zehn Mann wurden sie erschossen und in wahrscheinlich drei oder vier Massengräbern begraben. Das in Sra Qala ist eines davon.

Heute enthält es auch die Überreste von etwa 80 Toten, die vor einigen Monaten aus einem Grab näher an der Straße hierher überführt wurden, wohl auf Anweisung damals Beteiligter, die eine Entdeckung fürchteten. Von diesen nur oberflächlich Verscharrten stammen die Knochen- und Kleiderreste. Die hier zuerst Begrabenen liegen in zwei Metern Tiefe, fand eine Kommission des Innenministeriums Mitte September heraus. Ihr Bericht ist nicht zugänglich.

Auch Zivilisten sollen in den Massengräbern liegen. Darunter sind laut Pajhwok ein Fleischer und ein Schneider, die für „kommunistische“ Soldaten und Beamte gearbeitet haben sollen. Bekannt sind die Namen der am Massaker beteiligten Kommandeure: Mulla Farid von Hezb und Muhammad Ali Jalali, genannt Madali, von Harakat. Madali wurde von mindestens einem der Zeugen dabei gesehen. Das gibt dem Fall die Brisanz und erklärt die Angst der Zeugen: Denn Madali – der vom Kellner zum Mudschaheddinkommandeur aufstieg – ist Parlamentskandidat in Paktika und liegt bei der Auszählung aussichtsreich an zweiter Stelle.

Bis vor einem knappen Jahr war er Gouverneur von Paktika, ernannt von Präsident Hamid Karsai. Dabei war bekannt, dass er auf Seiten der Taliban stand und, so wird im Basar von Scharana gemunkelt, noch heute Kontakte zu ihnen unterhält. Es heißt auch, er habe die meisten seiner Waffen vor dem von der UNO offiziell für erfolgreich beendet erklärten Entwaffnungsprogramm für afghanische Milizen verborgen und Karsai persönlich habe ihn vor dem Wahlausschluss bewahrt.

Derweil terrorisieren Madalis Subkommandanten weiter die Bevölkerung. Vier von ihnen – Mohammad Gul Gharwal, Mir Ahmad Khan, Kashmir und Qutb – werden in einer Zeugenaussage als Beteiligte an dem Massaker genannt. Bei den Wahlen soll es gerade in Paktika zu massiven Fälschungen gekommen sein, von denen auch Madali profitiert habe. Auch in anderen Provinzen liegen nach Zwischenergebnissen Kandidaten gut im Rennen, denen massive Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden. JAN HELLER