Der Verräter neben mir

Ritual Tatort Schulterblatt: kollektiv kucken im Hamburger Schanzenviertel

Wer Fernsehen für Privatsache hält, ist hier falsch

Wer um acht da ist, hat noch Chancen auf einen Platz“, hieß es. Na prima. Nun ist es zehn nach acht und ich ärgere mich, dass ich diese Vorhersage nicht ernster genommen habe: Die besten Plätze im Haus 73 im Hamburger Schanzenviertel sind besetzt: lauter Mittdreißiger mit lässig übereinandergeschlagenen Beinen, die Bierflasche in einer Hand balancierend, den Blick konzentriert auf die noch leere Leinwand gerichtet.

Ich muss in die hinteren Reihen, mein Sitznachbar für die nächsten 90 Minuten quittiert das ungemütliche Stühlerücken mit Stirnrunzeln und ruckelt sich dann selbst noch mal zurecht, so als gelte es, die bequemste Position auf dem imaginären Sofa zu finden.

Es ist Tatort-Abend: Wer Fernsehen für Privatsache hält, ist hier falsch. Denn das hier ist ein Gemeinschaftsding, kein einsames Durch-die-Mediathek-Klicken, hier läuft kein Stream, der sich viel zu langsam aufbaut. Gutes, altes, lineares Fernsehen, im Kollektiv. Wie schön. Bald ebbt das letzte Tuscheln ab, in der Reihe vor mir macht noch schnell eine Tüte Bonbons die Runde. Die Melodie, na endlich. Als das Tatort-Intro losdröhnt, wird es still.

Heute sind die Bremer Kommissare Lürsen und Stedefreund dran. „Die Lürsen ist mir ja total sympathisch“, sagt eine hinter mir, als Sabine Postel zum ersten Mal ins Bild tritt. „Echt besser als die Furtwängler.“ Interessanter Vergleich, der aber nicht weiter ausgeführt werden kann: „Pssst!“, mein Sitznachbar dreht sich mahnend um, rollt mit den Augen.

Hinter mir wird locker weitergetuschelt. „Der Stedefreund ist schon alt geworden.“ – „Sieht aber noch gut aus.“ – „Mhh.“ – „Hatte der nicht neulich mehr graue Haare?“ –„Echt? Mhh. Na, die Lürsen färbt ihre Haare auf jeden Fall. Sieht gut aus.“ Zum Glück ist der Plot spannend genug, um die Stilkritikerinnen zum Schweigen zu bringen: Digitale Avatare entwickeln ein Eigenleben. Geht natürlich gar nicht gut. Wieder mal läuft die Dystopie über neue technologische Entwicklungen aufs Prinzip „Die Geister, die ich rief“ hinaus.

Der augenrollende Nachbar sitzt indes kerzengerade und schweigt. Bis zur 35. Minute. „Die war’s!“, sagt er laut, mit Fingerzeig zur Leinwand. Na, danke auch. Der Rest des Films ist nur noch mäßig spannend, die Stimmung im Umkreis des Verräters geknickt. Denn er hat natürlich Recht, die Enttarnung des Täters ist am Ende keine Überraschung mehr.

Mit dem Tatort-Abend ist es eben wie mit fast allem, das in Gesellschaft stattfindet: Kann lustig sein, kann nerven – kommt immer drauf an, wer dabei ist. annika Lasarzik