Ständige Vertretung auf der dunklen Seite der Macht

Höchst geheime Innenansichten eines tief klandestinen Kleinressorts

Nur Erfahrene finden die Pointe, die dem Autor wichtig ist, um sie ersatzlos zu streichen

Ein gewisser Ringel war am Telefon und kam ohne Umschweife zur Sache. Ob ich mir vorstellen könne, vertretungsweise den Redakteur der Wahrheit-Seite zu geben, fragte er, und ich bejahte ebenso umschweiflos. Schließlich bin ich Autor und kann mir schon von Berufs wegen absurde Szenarien vorstellen.

Sicherheitshalber legte ich aber gleich wieder auf, da ich die Ränke der Konkurrenz hinter der unseriös anmutenden Anfrage vermutete. Erst beim nächsten Telefonat konnte mich Ringel überzeugen, dass ich tatsächlich mit dem Satirepapst der taz sprach und nicht etwa mit Bild-Troll Kai Diekmann, der das Feindblatt mit dieser Personalrochade in den Ruin treiben wollte, weil dort längst niemand mehr über seinen Pimmel schrieb.

Aber natürlich hatte ich ­Bedenken, denn ich konnte als Autor ja nicht einfach auf der dunklen Seite der Macht ­mitmischen. Man kann ja auch nicht gleichzeitig Spieler und Schiedsrichter sein. Oder Raubtier und Beute. Denn auch wenn Autor und Redakteur mit festem Band verknüpft sind, ist es nicht zwingend ein Band der Sympathie. Dabei sind die ­Unterschiede zwischen ­beiden Berufsständen marginal: Der eine produziert unter gar schrecklichen Entbehrungen hohe Literatur, der andere hebt oder senkt recht feist den ­Daumen. Der eine lebt fest angestellt in Saus und Braus, dem anderen verhungert die eigene Kinderschar, sobald ein Text abgelehnt wird. Man könnte auf Anhieb gar nicht sagen, wem mehr Achtung gebührt. Man kann allerdings meist auf ­Anhieb sagen, wer mehr verdient.

Nebenbei machte ich mir auch berechtigte Sorgen um meine Qualifikation, die zu etwa gleichen Teilen aus Blauäugigkeit und Ahnungslosigkeit bestand. War ich damit nicht überqualifiziert? Und brachte ich ferner die notwendige Chuzpe für die Redaktionsarbeit mit? Konnte ich Autoren monatelang ignorieren, um ­ihnen dann mit einer vernichtenden Absage allen Lebensmut zu nehmen? Brauchte es nicht jahrelange Erfahrung, im Text jene Pointe zu finden, die dem Autor besonders am Herzen lag, um sie dann ersatzlos zu streichen? Würde ich den Autoren mit der notwendigen Herablassung begegnen können? War das überhaupt ein richtiger, ordentlicher Ausbildungsberuf, oder wurde man zum Redakteur gesalbt, zwangskonvertiert oder gar geschlagen?

Augenblicklich fühlte ich schlimmste Gewissensnot aufwallen, die ich nur mit einem kurzen Blick auf meinen Kontostand niederkämpfen konnte: Natürlich würde ich vertreten, und zwar pronto.

Ringel nahm meine Zusage vollkommen gefasst auf. Er brach nicht einmal in haltloses Gelächter aus, dabei hatte ich ihn bislang für recht zurechnungsfähig gehalten. Die Satiren, die ich seit einigen Jahren für die Wahrheit schrieb, druckte er meist ohne größere Gegenwehr ab, seine Mails waren oft verständlich, aber immer erfreulich kurz, und er rief nie zu komischen Uhrzeiten an. Eigentlich rief er überhaupt nie an, was mich immer besonders für ihn eingenommen hatte.

Ohnehin erschien mir die Wahrheit-Redaktion verdächtig umgänglich, zumal Harriet Wolff dazugestoßen war, die Autoren in angenehme Plaudereien zu verstricken pflegt, während sie ihnen waghalsige Abgabetermine unterschiebt. Heute weiß ich, dass die demons­tra­tive Zugewandtheit der beiden Profis ein taktisches Manöver ist, mit dem sie von den taz-üblichen Honoraren ablenken. Diese mit der Bezeichnung „Almosen“ viel zu hoch taxierte Gabe sorgt allerdings dafür, dass sich auf der Seite reine Überzeugungstäter tummeln. Man muss es sich leisten können, für die Wahrheit zu schreiben.

Mittlerweile hat die Redaktion schon einige meiner Vertretungseinsätze ­überstanden, ohne dass es zu Ausschreitungen gekommen wäre. Und auch für mich gehört es fast zum Alltag, hinterrücks überwältigt und ins Kontor gezerrt zu werden, wann immer einer der beiden Wahrheit-Verkünder Ringel und Wolff der aufreibenden Schinderei überdrüssig geworden ist. Denn die meiste Arbeit bleibt ja doch am Redakteur hängen, musste ich feststellen, kaum dass ich den Redaktionseid („Die meiste Arbeit bleibt ja doch am Redakteur hängen“) gesprochen hatte.

Aber während Autoren für ihre halbgaren Ideen in der Kommentarspalte vom Leser mit Liebe und anderen Empfindungen überschüttet werden, bleiben die Redakteure unbesungen. Dabei ist es allein ihnen zu verdanken, dass aus schludrig heruntergepinnten Einsendungen jene Karfunkelsteine der Komik werden, die täglich die Wahrheit-Seite zieren. Dafür kann man sie ruhig ein wenig kniefällig anbeten. Denn das viele Geld allein macht ja bekanntlich nicht glücklich.

Christian Bartel

Christian Bartel ist Schriftsteller und Wahrheit-Vertretung