Kapitulation der Gutmeinenden

MIGRATION Das Göttinger „Boat People Projekt“ war Vorreiter, Geflüchtete in die Theaterarbeit zu integrieren. Sein Stück „Hilfe!“ rückt die Helfer selbst in den Fokus

Unmöglich, alles richtig zu machen: Der Eigennutz beim Helfen lässt sich in „Hilfe!“ einfach nicht verdrängen Foto: Reimar de la Chevallerie

von Jens Fischer

Orient-Pop tönt aus den Fenstern, dazu lümmelige Hip-Hop-Beats aus Smartphones. Als Chill-out-Arena nutzen Jugendliche ein riesiges Treppenhaus. Bekopftuchte Mütter besänftigen ihren Nachwuchs. Durch Flure führen Sticker mit der Aufschrift „boat people“. Seit 2009 beschäftigt sich das Göttinger „Boat People Projekt“ mit den aktuellen Migrationbewegungen gen Europa. Das freie Theater war Vorreiter, Geflüchtete in die künstlerische Arbeit zu integrieren – und ist jetzt dort angekommen, wo diese leben: in der Erstaufnahmeeinrichtung am Nonnenstieg 72. Mehr Nähe geht kaum.

Villen im großbürgerlichen Stil prunken am Fuße des Göttinger Nikolausbergviertels. Wer stadtauswärts bergan wandert, bemerkt am Nonnenstieg die stetige Versachlichung der Architektur hin zu bürgerlichen Mehrfamilienhäusern. An der Grenze, wo die Bebauung in kleinbürgerlich großformatige Wohnblöcke übergeht, öffnet sich die üppige Zufahrt zum Grundstück des Flüchtlingsheimtheaters.

Einst residierte dort das Institut für wissenschaftlichen Film und produzierte fünf Nachkriegsjahrzehnte lang die bundesweit eingesetzten Lehrfilme für den Schulalltag – verpennte dann aber die Digitalisierung und verabschiedete sich in die Insolvenz. Auf dem Firmengelände wollte der neue Besitzer schnieke Apartmenthäuser errichten, aber Anwohner wehrten sich gegen die „Gentrifizierung des Viertels“. Schließlich mietete die Stadt das leer stehende Gebäude, baute Büros zu Wohnschlafzellen um und weitere Unterkünfte an. Derzeit 150, manchmal auch 220 Menschen sind dort untergebracht.

Mitten im Multikulti-Alltag

Den Filmstudiokomplex bezog die „Boat People Projekt“ GbR. Zum Kollektiv gehören Regisseurin, Ausstatterin, Autorin, Schauspielerin, Musiker und Videokünstler. Abends wird das Studio als Raumbühne genutzt, tagsüber als Proberaum, Sitzungssaal und Büro. Das Tonstudio dient als Lager, Garderobe, Kaffeeküche und Werkstatt, ein kleines Büro beherbergt den Kostümfundus. Drumherum tobt der multikulturelle Alltag – wo nicht lange gesucht werden muss nach Stoffen und Menschen, die ins Theatermachen inkludiert werden wollen.

Gerade wurde ein Hausmusikabend herausgebracht – mit Liedern der Geflüchteten. In Arbeit ist ein Stück über die Faszination des IS-Terrors. Unbegleitete Jugendliche des Wohnheims sollen mit Göttinger Schülern und Händels Oper „Lotario“ die Wechselbeziehung von Glauben und Loyalität erkunden. Da institutionelle Unterstützung fehlt, muss jede Aktivität durch extra beantragte Fördergelder finanziert werden. Das gilt auch für die soziokulturelle Arbeit in Frauen-, Jugend-, Kindergruppen sowie einem Filmclub.

Kommuniziert werde dabei in Deutsch, das sei nach den ersten Sprachkursen „der kleinste gemeinsame Nenner“ der multilingualen Teilnehmer, erklärt Regisseurin Nina de la Chevallerie. Insgesamt seien jährlich 100 Geflüchtete in diese theaterpädagogische Arbeit involviert.

Parallel toben die Theatermacher ihren künstlerischen Anspruch konsequent bei einem Jugend-, einem Erwachsenen- und einem Musiktheaterstück aus. Chevallerie: „Da nehmen wir uns Stadttheater-üblich sechs Wochen Probezeit und feiern Premiere in Göttingen, dort haben wir zahlenmäßig ein Publikum für etwa zehn Vorstellungen.“ Es besteht bei unserem Besuch zu je einem Drittel aus Geflüchteten, Studenten und klassischem Ü60-Bildungsbürgertum.

Die Erfahrungen der „Boat People“ sind gefragt. Gerade hat die erste Filmproduktion der Filmemacher „Bildwerfer“ und des „Jungen Boat People Projekts“ den diesjährigen Deutschen Menschenrechts-Filmpreis in der Kategorie Amateure gewonnen. Und Chevalleries Kollegin Luise Rist hat den Auftrag angenommen, am Ludwigshafener Pfalzbautheater ein ähnliches Projekt aufzubauen.

Folgt nun die Migration ins Stadttheater? „Nein, da haben wir keinen Bock drauf“, so Chevallerie. Sie geht lieber inhaltlich einen Schritt weiter und verlagert mit der Uraufführung von „Hilfe! Ein Stück über Grenzwerte“ den Fokus auf die professionellen und ehrenamtlichen Flüchtlingshelfer. Ein Projekt in eigener Sache sozusagen.

Skulptur des Miteinanders

Die Berliner „Nachtkritik“-Redakteurin Sophie Diesselhorst wurde als Dramatikerin, Léa Dietrich als Bühnenbildnerin engagiert. Auf dem mit Pappe ausgelegten Boden arrangierte sie Stühle in lockerer Schüttung, die mal zu einer wackelig symbolischen Skulptur des Miteinanders aufgetürmt werden, mal die Wartesituation nicht anerkannter Asylbewerber markieren, zum Platznehmen im Bühnengeschehen einladen und Requisit der Begegnungen sind.

Das Ensembletrainierte diverse Spielformen – für eine schmerzhafteWillkommenskultur-Comedy

Monitore bieten arabische Übersetzungen der Dialoge an, zeigen aber auch den satirischen Versuch, Göttingen aus Sicht eines Flüchtlings zu zeigen – nämlich mit Wackelbildern einer Webcam, die der syrische Kurde Azad beim Stadtbummel an der Basecap trug. Geradezu tragikomisch verzettelt sich derweil ein gewisser Timo in seinem Hilfsüberschwang – indem er die Bühne mit Erinnerungen an all die für „morgen 12 Uhr“ zugesagten Termine vollzettelt.

Der grob collagierte, dabei frech, humorvoll analytisch und trotzdem realistisch anmutende Text ist zum schnellen performativen Gebrauch bestimmt. Chevallerie trainierte das Ensemble in diversen Spielformen – für schmerzhafte Willkommenskultur-Comedy.

Neben Azad sind dabei ein Iraker, ein Pakistani und die rührend hilflose Helferin Ann-Marie (Imme Beccard): „Hast du Fragen? Nee? Also. Das ist immer die erste Frage. Was hat dich hergeführt?“ Azad reagiert mit freundlich-devoter Dankesgeste. Ann-Marie setzt neu an: „Die Frage ist eher so gemeint, also so wie ich sie verstehe, um gleich mal herauszufinden, was das Problem ist. Also vielleicht sollte ich dann eher fragen: Was ist dein Problem? Aber das klingt so aggressiv.“ Ein Eiertanz, politischen Korrektheitsgeboten zu genügen.

So mündet jede Interaktion von Heimatvertriebenen und Heimatvermittelnden in ratlose Überforderung. Bis das Räsonieren über positiven Rassismus beginnt. Angst wird deutlich, Geflüchtete als Projektionsfläche von Vorurteilen zu nutzen. Das Verdrängen der eigennützigen Aspekte des ganzen Gehelfes scheitert. Für eine weitere Argumentationsebene wird ein Schauspieler im Publikum platziert. Er grätscht immer mal wieder als kritische Off-Stimme in die Szene. Rätselnd, ob ihn die Autorin als Durchschnittsdeutschen, potenziellen Protestwähler oder Wutbürger erfunden hat.

Am Ende des szenischen Sammelsuriums betrinken sich die Gutmeinenden, „Kapitulation“ von Tocotronic wird angestimmt. Mit ironischem Unterton. „Denn es muss doch praktische Alternativen geben für die pure Empörung angesichts der Flüchtlingskrisen“, sagt Chevallerie: „Nur eines geht gar nicht: gar nichts zu tun.“

„Hilfe! Ein Stück über Grenzwerte“: Fr, 25. 11., bis So, 27. 11., 19.30 Uhr, Theater imehemaligen IWF, Nonnenstieg 27, Göttingen