Die Braut haut ins Auge

Steppensand Alissa Ganijewas „Eine Liebe im Kaukasus“ breitet das Panorama einer entrückten Welt aus

Hochzeit in Dagestan, die Braut ist 17, der Bräutigam 20, beide studieren, 500 Gäste werden erwartet Foto: Sergey Maximishin/Agentur Focus

von Nina Apin

Zu Hause muss die angehende Juristin Patja erst einmal Teppiche mit Terpentin reinigen. Dann heißt es: das hochgeschlossene Plissékleid anziehen und mit Mama potenzielle Heiratskandidaten abklappern. Doch ist für ein Mädchen mit 25 der Zug nicht bereits abgefahren?

Auch der Junganwalt Marat, in seiner Moskauer Kanzlei mit der Verteidigung einer bekannten Menschenrechtlerin betraut, muss im Sommer den Heimweg in die staubige Siedlung hinter den Bahngleisen antreten. Dort wartet schon die Mutter mit einer Bräuteliste. Moskau hin, Moderne her – der Hochzeitssaal ist bestellt, jetzt muss die passende Braut gefunden werden.

Marat wehrt sich zunächst noch tapfer gegen die allzu Frommen mit Nikab, gegen die Dümmlichen, die den ganzen Tag Katzenbilder posten. Doch irgendwann helfen alle Ausreden nichts. Guter Anzug, Gastgeschenk, im Schlepptau der energischen Mutter quer durch die Siedlung … nur nicht hinter die Gleise, wo die „Waldbrüder“ wohnen, die in der wahhabitischen Moschee beten.

Waldbrüder? Wahhabiten? Schon nach den ersten Seiten von Alissa Ganijewas neuem Roman fühlt man sich als mitteleuropäische Leserin hilflos, aber auch fasziniert. Wie wenig man doch weiß vom Leben im dagestanischen Hochgebirge! Dass Chinkal die awarische Version von Maultaschen ist, erfährt man beim Blick ins Glossar. Was aber hat es mit dem Krieg der Moscheen auf sich, von denen die eine vom staatlichen „Muftiat“ kontrolliert, die andere vom lokalen Clanchef finanziert wird?

Ganijewa breitet ein Technicolor-Panorama einer seltsam entrückten Welt aus: „Jäh trug ein Windstoß Steppensand vorbei, Kartonfetzen, die wie Mürbeteigkekse aussahen, eine leise, schlichte Liedmelodie aus einem weit entfernten Lautsprecher und das durchdringende, fordernde Muhen einer Kuh, die sich nach ihrem Kalb sehnte.“

„Eine Liebe im Kaukasus“ ist ein moderner Liebesroman, angesiedelt in einer rückständigen, von Volksglauben und Clanstrukturen geprägten Welt. Die unabhängige Republik Dagestan zeichnet Ganijewa als zwischen Tradition und Moderne zerrissenes Land; die Bergbevölkerung, die während der Sowjetzeit ins Flachland zwangsumgesiedelt wurde, als stolze, von archaischen Rechtsvorstellungen und Gebräuchen geprägte Menschen, die zwar Internet haben, aber glauben, der Fruchtbarkeit durch das Amulett eines Scheichs auf die Sprünge helfen zu können.

Die Geschichte zweier Menschen, die sich außerplanmäßig ineinander verlieben

Fruchtbarkeit ist überhaupt ein Dauerthema dieser ländlichen Bevölkerung, die scheinbar nur ein Thema kennt: Heiraten und Nachkommen zeugen.

Mit leisem Spott erzählt Ganijewa die Geschichte von Patja und Marat, die sich außerplanmäßig ineinander verlieben und doch nicht glücklich miteinander werden können. Besonders eindrücklich geraten die aus Sicht von Patja erzählten Passagen. Sie wird von der Familie bevormundet und von penetranten Verehrern in ihrer Intelligenz beleidigt: „Quadratschädel bombardierte mich mit Aphorismen, musterte mich mit seinen Schweinsäuglein.“

Studieren darf sie und soll doch heiraten. In Moskaus Studentenkreisen gilt Patjas Welt als rückständig und von religiösem Extremismus durchsetzt – dort aber versammelt man sich morgens neuerdings wieder im Kollektiv, um sich wie zu Sowjetzeiten gegen einen imaginären Feind zusammenzuschließen.

„Eine Liebe im Kaukasus“ ist das Porträt einer postsowjetischen Gesellschaft, die von der eigenen Geschichte mit ihren regionalen Sprachen und Traditionen abgeschnitten ist. Dort mischen sich Kapitalismusgläubigkeit und Aberglaube, ein archaisches Ehrverständnis konkurriert mit neofeudalistischer Oligarchenherrschaft. Zusammengehalten wird alles von politisch eingefärbtem Klatsch und dem endlosen, neidgetränkten Geschwätz der Frauen, die sich vom Unglück anderer geradezu zu ernähren scheinen.

„Dass du dich bloß nicht zunähen lässt!“, rät Patjas Freundin der sitzengelassenen Freundin Amischka. Es gebe ja auch fortschrittliche Jungs, die nicht auf Jungfräulichkeit bestünden. Zur Not bliebe der „Gefallenen“ immer noch das Los einer züchtig bedeckten Zweit- oder Drittfrau eines Städters. So wie Angelique, Tochter einer Geschiedenen, die unter ihrem Nikab Sündiges treiben soll und zur Projektionsfläche transgressiver Fantasien wird. Auch für Marat und Patja, die sich trotz ihrer Moskauer Sozialisation nicht aus den alten Mustern lösen können. Nur einer wagt, mit den Konventionen zu brechen. „Nagel-Russik“ trägt das Haar lang, tanzt Tango und läuft mit einem Plakat durch die Siedlung, auf dem steht: „Es gibt keinen Gott“. Es kostet ihn das Leben.

Ist „Nagel-Russik“ Opfer eines islamistischen Lynchmobs geworden, einer politischen Intrige oder hatte ein Dschinn seine Hände im Spiel? Und wer ist der grün gekleidete Unbekannte, der mehrmals in der Geschichte auftaucht und den Figuren den Geist mit Wein vernebelt?

Rausch, Entgrenzung, magische Rituale: In die Liebesgeschichte webt Ganijewa Elemente aus dem Sufismus ein, sozusagen eine zweite Ebene für Fortgeschrittene. Es waren Sufi-Gelehrte und Pilger, die das Gebiet des heutigen Dagestan zwischen dem achten und zehnten Jahrhundert islamisiert haben. Um Elemente aus lokalen Naturreligionen bereichert, entwickelte sich eine Art Volksislam: mystisch, geprägt von der spirituellen Beziehung zwischen Lehrer und Schüler. Als Scheich, aber auch als den von Sufis verehrten „Gottesfreund“ al-Chidr aus dem Koran kann man den Fremden in Grün lesen und ebenso den allgegenwärtigen Oligarchen Hallilbeck.

Man braucht diese zweite Ebene nicht, um den Roman zu verstehen. Lässt man sich aber darauf ein, etwa indem man das Nachwort von Christiane Körner liest, gesellt sich zu einer interessanten Lektüre noch ein echter Erkenntnisgewinn.

Alissa Ganijewa: „Eine Liebe im Kaukasus“. A. d. Russischen von C. Körner. Suhrkamp, Berlin 2016, 240 S., 22 Euro.