Flüchtlingspolitik in Kenia: Wie Geflüchtete Terroristen werden

Kenia unterhält seit 25 Jahren das größte Flüchtlingslager der Welt. Jetzt soll es geschlossen werden. Die somalischen Flüchtlinge wurden zu Terroristen erklärt.

Somalische Flüchtlinge warten 2011 auf ihre Registrierung im kenianischen Dadaab Foto: ap

NAIROBI taz | „Es muss ein Ende haben, Flüchtlinge zu beherbergen“, hatte Kenias Regierung im Mai 2016 verkündet. Ein Vierteljahrhundert ist das weltweit größte Flüchtlingslager alt. Einst war es von UN-Hilfswerken aus dem kargen Wüstenboden gestanzt worden. Unter dem somalischen Namen „Dadaab“ hat die Zeltstadt, die auf keiner Landkarte verzeichnet ist, traurige Berühmtheit erlangt. Fotos von bis auf die Knochen ausgehungerten Kindern im Wüstensand gingen um die Welt. 1992 war das Lager im Nordosten Kenias entlang zur Grenze mit Somalia für rund 30.000 Menschen errichtet worden, die vor dem ausbrechenden Konflikt in ihrer Heimat ins Nachbarland flüchteten.

Im Verlauf der Jahrzehnte wuchs Dadaab zum größten Flüchtlingslager der Welt an. Rund eine halbe Million Menschen hausten dort unter elenden Bedingungen zu Hochzeiten, als 2011 und 2012 in Somalia Krieg, Dürre und Hungersnot herrschte. Rund 35.000 kehrten in den vergangenen Jahren freiwillig zurück in ihre Heimat, rund 16.000 wurden in Drittländer ausgeflogen, die meisten in die USA, nach Großbritannien oder Schweden. Rund 40.000 erhielten kenianische Pässe.

14.000 nicht-somalische Flüchtlinge wurden in ein weiteres Camp in die nordwestliche Region Turkana verlegt. Dort bietet das zweitgrößte Lager, Kakuma, nahe der Grenze zu Südsudan derzeit 186.000 Flüchtlingen Schutz, die meisten Südsudanesen. Auch Kakuma sollte nach Plänen der Regierung dicht gemacht werden. Doch dann war im Juli 2016 im Südsudan erneut Krieg ausgebrochen, täglich retten sich tausende Südsudanesen über die Grenze. Notgedrungen musste Kenia das Lager erhalten. Es wird jetzt weiter ausgebaut.

Im November 2016 lebten nach UNHCR-Angaben in den fünf Siedlungen Dadaabs noch rund 275.000 Flüchtlinge, fast alle Somali. Die UN schätzt, die endgültige, freiwillige Rückkehr aller Flüchtlinge könne erst im Jahr 2032 erfolgen. Doch das geht Kenias Regierung nicht schnell genug. Im Mai 2016 hat das Innenministerium auf Beschluss des nationalen Sicherheitsrates verkündet, das Lager werde Ende November 2016 dicht gemacht. Es würden dort keine neuen Ankömmlinge mehr registriert. Im Gegenteil: Die Somali sollen über die rund 100 Kilometer von Dadaab entfernte Grenze in ihre Heimat zurückgebracht werden.

Kurz darauf packten laut UNHCR-Angaben rund 17.000 somalische Flüchtlinge ihre Habseligkeiten. Es waren insgesamt rund 5.000 Familien, die vom UNHCR in Bussen oder per Flugzeug in ihre Heimat transportiert wurden. Dazu wurden vier Zonen definiert, die für die Rückkehrer als sicher gelten, darunter Somalias Hauptstadt Mogadishu sowie die Hafenstadt Kismayo. 150 Dollar und Lebensmittelrationen für sechs Monate bekommen Rückkehrwillige pro Person als Startpaket vom UNHCR.

Drei Viertel der Rückkehrer hatte sich entschieden, nach Kismayo zu gehen, auch wenn die Hälfte davon angab, nicht von dort zu stammen. Doch das UNHCR sowie weitere NGOs haben dort in ein Vertriebenenlager investiert. Die überwiegende Mehrheit gab in einer UNHCR-Befragung an, sie würde die Region als sicher betrachten und dort von Familienmitgliedern empfangen werden. Die Umfrage ergab, dass die meisten der Rückkehrer arbeitslos oder Studenten waren und sie sich in ihrer Heimat mehr Beschäftigungsmöglichkeiten versprachen. Kenia biete ihnen keine Zukunft. Über 10.000 gaben bei der Befragung als Gründe an, sie befürchten Unsicherheit und Abschiebung.

(Un-)freiwillige Heimkehr

Bereits 2013 hatten sich Kenias und Somalias Regierungen in einem trilateralen Abkommen mit dem UNHCR auf die Schließung der Lager in Kenia verständigt. Darin war die Frist einer freiwilligen Rückkehr auf Ende November 2016 angesetzt gewesen. Somalias und Kenias Regierungen wollten an diesem Datum festhalten und erhöhten dementsprechend den Druck. Das UNHCR hingegen beharrt auf dem internationalen Prinzip der Freiwilligkeit der Rückkehr und bleibt bei seiner Hochrechnung bis zum Jahr 2032.

Hassan Sheikh Mohamud besuchte im Juni 2016 als erster somalischer Präsident Dadaab. Er versprach seinen Landsleuten: „Wir wollen nicht, dass ihr gezwungenermaßen zurückkehrt, ohne dass euch Unterkünfte, Bildung und Gesundheitsversorgung zur Verfügung stehen“. Wer dafür bezahlen soll, darüber schwieg er sich aus. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR hat im Jahr 2016 für die somalische Flüchtlingshilfe nicht einmal ein Drittel der veranschlagten 150 Millionen Dollar erhalten.

Die Aufnahme so vieler Heimkehrer in kurzer Zeit sei eine Herkulesaufgabe für ein Land, das nach über 20 Jahren Krieg fast vollkommen zerstört ist, gab Somalias Regierungssprecher Daud Awais zu. Doch Somalias föderale Übergangsregierung benötigt die somalische Bevölkerung zu Hause. Geschätzte acht Millionen waren es einmal vor Kriegsbeginn, mehr als die Hälfte soll laut Weltbank im Exil leben. Ende 2016 sind Wahlen angesetzt, in welchen die Klanchefs eine neue Regierung wählen. Die Rückkehr der Flüchtlinge würde zur Demokratisierung und Legitimierung der neuen Übergangsregierung und damit zur Stabilisierung des Landes beitragen und evtl. könne man über eine Wahlbeteiligung der Gesamtbevölkerung nachdenken, so der Regierungssprecher: „Behaltet im Kopf, dass eure Rückkehr ein Zeichen für die Wiederbelebung des Friedens in Somalia ist und dass ihr einen Unterschied für euer Land machen könnt, wenn ihr heimkehrt“.

Kenias Innenminister, Joseph Nkaissery hieß Somalias Präsident in Dadaab willkommen und betonte, Kenia würde bei der Rückführung helfen. Man halte am Datum der Schließung fest. Danach traf Mohamud in Kenias Hauptstadt Nairobi seinen Amtskollegen Uhuru Kenyatta. Der Beginn einer guten Nachbarschaftsbeziehung? Noch nie waren sich die beiden Länder, die seit der Unabhängigkeit zu Beginn der 1960er Jahre auf Kriegsfuß miteinander stehen, so einig wie jetzt in der Flüchtlingsfrage.

Grund dafür sind gemeinsame Interessen gegenüber der Internationalen Gemeinschaft: Geld und Sicherheit. Kenia will die Flüchtlinge wegen der Terrorgefahr loswerden und verlangt mehr Geld, um die Lager nicht sofort zu schließen. Somalias Regierung will seine Bevölkerung zurück und hofft, endlich all diejenigen Gelder zu bekommen, die die internationale Gemeinschaft bislang nach Kenia pumpt. Gemeinsam setzen sie die westlichen Geber unter Druck.

Schlachtfeld im Kampf gegen den Terror

In der Anweisung, Dadaab endgültig zu schließen, nennt das Innenministerium die Bedrohung der nationalen Sicherheit sowie Umweltzerstörungen als Gründe. Es ist das mächtigste Ministerium, untersteht direkt der Präsidentschaft und ist damit der verlängerte Arm von Präsident Kenyattas Macht.

Somalias islamistische Terrormiliz Al-Shabaab hat in den vergangenen Jahren zahlreiche Anschläge innerhalb Kenias verübt. 2013 töteten sie in der Hauptstadt Nairobi 71 Menschen im Luxus-Einkaufszentrum Westgate, wo Kenias Mittelklasse und Ausländer ihre Wochenenden verbringen. 2014 überfielen sie Touristenorte an der Ozeanküste in Lamu. Daraufhin brach der Tourismussektor ein, einer der wichtigsten Wirtschaftszweige Kenias. 2015 kam es in der östlichen Provinzhauptstadt Garissa, unweit von Dadaab, zu einem Massaker in der Universität, bei welchem 148 Studenten getötet wurden. Sie alle können als Vergeltungsaktionen der Shabaab gelesen werden, die sich für den Einmarsch kenianischer Truppen in Somalia rächte.

Die Invasion erfolgte kurz nach der Entführung zweier spanischer Krankenschwestern aus Dadaab 2012, die für Ärzte ohne Grenzen arbeiteten. Die Operation endete im Desaster und provozierte Racheaktionen. Die Miliz drang immer weiter nach Kenia vor. Selbst in Dadaab legte sie Sprengkörper und rammte mit Autobomben die Kasernen der kenianischen Sicherheitskräfte. Die UN-Agenturen mussten Unterkünfte mit meterhohen schusssicheren Betonmauern hochrüsten. Seitdem bewegen sich NGO-Mitarbeiter nur mit Militäreskorte durch das Lager.

Bis heute hat die kenianische Armee über 3.000 Soldaten in Somalia im Rahmen der Friedensmission der Afrikanischen Union in Somalia, AMISOM, stationiert, die von der EU zum Großteil finanziert wird. Zu Beginn 2016 hatte die EU angekündigt, die Gelder zu reduzieren. Da drohte Kenia mit dem Abzug. Kurz darauf bewilligte die EU weitere Gelder.

Machtlose Polizei

Kenias Staatsanwaltschaft hatte nach dem Westgate-Angriff Telefonkontakte der Attentäter in den Flüchtlingslagern ermittelt. Seitdem wird Dadaab als Brutstätte des Terrors bezichtigt. Anti-Terror-Einheiten stürmten die Zeltstadt, nahmen tausende Verdächtige fest, brachten sie nach Nairobi und stellten sie dort innerhalb von 24 Stunden vor Gericht.

Kenias Polizeikräfte haben nur bedingt Kontrolle über die Lager. Sie gelten als rechtfreier Raum mit eigenen Gesetzen. Darin hat mehr die Shabaab das Sagen als Kenias Polizei. Die gilt als dermaßen korrupt, dass ihr von Sicherheitsexperten ein Scheitern im Kampf gegen den Terror prophezeit wird. Für 2017 sind Wahlen in Kenia angesetzt, das Gewaltpotential steigt aufgrund innerer-ethnischer Konflikte. Die Schließung Dadaabs gilt als Präventivmaßnahme, weitere Ausschreitungen zu verhindern.

Internationale Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International (AI) und Human Rights Watch (HRW) kritisieren, Somalia sei nicht sicher genug und die meisten Rückkehrer würden in ihrer Heimat wiederum in Vertriebenenlagern enden. Viele der von HRW befragten Heimkehrer hätten sich nur für die Rückkehr entschieden, weil sie fürchteten, Kenias Behörden würden Flüchtlinge mit Gewalt über die Grenze zurückführen. Dies sei bereits nach den Westgate-Anschlägen passiert, als tausende Somali gewaltsam abgeschoben worden waren. Da ziehen es doch die meisten vor, noch Geld und Rationen mitzunehmen. Dies entspräche nicht der Definition der „Freiwilligkeit“ und verletze Internationales Recht, sagt Victor Nyamori von Amnesty International in Kenia. Es gebe mehr „Push-Faktoren“, vor allem die Angst vor gewaltsamer Abschiebung, als „Pull-Faktoren“ wie ein besseres Leben in der Heimat.

Kenias Menschenrechtsorganisationen zogen vor Gericht: Die Entscheidung der Regierung, Dadaab zu schließen, würde gegen internationales Menschenrecht verstoßen, so die Sammelklage. HRW und Amnesty hatten Familien befragt, die nach Somalia zurückgekehrt waren und dort weder Sicherheit noch Unterkünfte vorgefunden hätten, wie sie beschrieben. Sie suchten dann erneut in Dadaab Schutz. HRW kritisiert Kenias Regierung, diesen Familien die erneute Registrierung – und damit die Lebensmittelrationen zu verweigern.

Auch ein anderes Vorgehen der Regierung sei verfassungswidrig, klagen die NGOs: In einer Anweisung vom Mai 2016 hatte der Innenminister die ihm unterstehende Abteilung für Flüchtlingsangelegenheiten aufgelöst. Sie war 2006 im Zuge das damals verabschiedeten Flüchtlingsgesetzes geschaffen worden, um die Rechte von Flüchtlingen umzusetzen. Das ursprüngliche Flüchtlings- und Asylgesetz von 1993 hatte die Genfer Konvention zum weltweiten Schutz von Flüchtlingen mit keinem Wort erwähnt.

Die Klage der Menschenrechtsorganisationen richte sich formell gegen die Vorgehensweise der Regierung, erklärt Andrew Maina von Kenias Konsortium für Flüchtlingsrechte (RCK), welches die Petition mit unterstützt. Der Innenminister könne nicht einfach per Anweisung Gesetze abändern und Behörden auflösen, selbst wenn sie ihm unterstehen, so der Anwalt und Chef der RCK-Rechercheabteilung. Noch vor Ende der Schließungs-Frist im November sollte das Urteil feststehen. Doch bei der ersten Anhörung erschien der Richter nicht.

Besorgniserregend findet Maina vor allem den Entwurf für ein neues Flüchtlingsgesetz, das derzeit im Parlament debattiert wird, denn dieses gehe in Hinsicht der Rechte und des Schutzes „rückwärts“, so Maina. Bis heute habe die Flüchtlingsbehörde ihre Pflicht nicht erfüllt, die Flüchtlinge tatsächlich zu registrieren. Die Ausstellung eines Flüchtlings-Passes, durch welchen sie international geschützt sind, erfolgte bislang über das UNHCR. Kenias Flüchtlingsabteilung im Innenministerium hatte bis zuletzt keine Übersicht, wie viele Menschen in den Lagern leben. Das soll sich jetzt ändern – auch aufgrund der Terrorgefahr

Generalverdacht gegen Flüchtlinge

Somalische Flüchtlinge erhielten bislang automatisch Asyl, sobald sie in Dadaab vom UNHCR registriert wurden. Auch diese Regelung wurde auf Anweisung des Innenministers aufgehoben. In Zukunft sollen alle Bewerber individuell geprüft werden. Dafür soll ein Komitee eingerichtet werden, welches die Personalien der Asylbewerber mit Geheimdienstdatenbanken abgleicht, um keinen Terroristen Schutz zu gewähren. Diese Kommission soll dem Innenministerium unterstehen, welchem ebenso der Geheimdienst sowie die Anti-Terror-Einheiten der Polizei unterstellt sind. Gemeinsam sollen diese Abteilungen aus den Asylbewerbern Terroristen heraussieben.

Wichtig ist dies auch im Zuge einer möglichen Abschiebung. Da die Regierung die Flüchtlinge bislang nicht registrierte, konnte sie nicht anerkannte Asylbewerber auch nicht abschieben. Selbst wenn das UNHCR jemandem den Status verweigerte, gab es keine Instanz, die diese Person des Landes verwies. Auch dies soll mit dem neuen Gesetz rascher möglich werden.

Es gebe zudem einen Ausfall an Hilfsgeldern „Bevorzugt werden die Gelder für diejenigen Flüchtlinge ausgegeben, die in den Westen fliehen“, klagte der kenianische Innenminister. Das UNHCR-Budget für somalische und südsudanesische Flüchtlinge 2016 hat enorme Versorgungslücken. Nicht einmal die Hälfte der benötigten Lebensmittel und Gelder seien von der Internationalen Gemeinschaft gespendet worden. Im Dezember 2016 müssen die Lebensmittelrationen um die Hälfte reduziert werden. Diese Lücken kann auch Kenia nicht schließen und fürchtet nun, mit dem Flüchtlingsproblem allein gelassen zu werden. „Kein einziges westliches Land“ habe ansatzweise so viele Flüchtlinge aufgenommen, klagt Kenias Regierung.

Unterstützung erfolgt derweil von der Türkei. Präsident Recep Tayyip Erdogan reiste im Juni 2016 nach Nairobi und kritisierte EU und USA, dass Entwicklungsländer die Last der Flüchtlinge und des damit einhergehenden Terrorismus alleine tragen müssten. Die Türkei hat sich in Dadaab schon immer großzügig engagiert. Das Dadaab-Viertel mit der größten und von der Türkei finanzierten Moschee nennen die Flüchtlinge „Istanbul“.

Vorrübergehende Ewigkeit

Die internationale Gemeinschaft sieht die mögliche Schließung Dadaabs kritisch. US-Außenminister John Kerry drückte seine „tiefe Besorgnis“ aus und warnte vor erzwungenen Rückführungen. Die UN drängt, in der Deadline der Lagerschließung „flexibel“ zu sein und bat die westlichen Geber um eine Aufstockung des Budgets für somalische Flüchtlinge um 115 Millionen auf 485 Millionen Dollar. Sämtliche Flüchtlingslager in Kenia werden ausschließlich von internationalen Gebern unterhalten. Flüchtlinge dürfen sich laut Gesetz nicht frei im Land bewegen, sondern müssen ausschließlich in Lagern leben. Anders als in Uganda, wo Flüchtlinge ein Stück Land zugewiesen bekommen, um Mais und Bohnen anzubauen und sich langfristig selbst zu ernähren, darf laut Gesetz keine „dauerhafte“ Behausung errichtet werden. Sie hausen auch nach 25 Jahren noch unter Zeltplanen.

Somit sind alle Flüchtlinge automatisch von Hilfsgütern der internationalen Gemeinschaft abhängig: von Lebensmitteln, über Gesundheitsversorgung, Schulbildung bis hin zur Behausung. Für die Flüchtlinge eine elende Situation, für die Geber ein teures Unterfangen. Kenia macht damit klar: Die Lager sind nur vorübergehend, eine Integration in die kenianische Gesellschaft bleibt ausgeschlossen.

Es ist nicht einfach, für Somali in Kenia die Staatsbürgerschaft zu erwerben. Seit der Festlegung der Grenzen zu Kolonialzeiten lebt in Kenia eine somalische Minderheit, die meisten in der Nordostprovinz entlang der somalischen Grenze mit der Bezirkshauptstadt Garissa und dem Lager Dadaab als größtem Ballungs- und Wirtschaftsfaktor. Nach der Unabhängigkeit von den britischen Kolonialherren kam es zur Entscheidung, die Provinz Somalia zuzuschreiben. Die lokale somali-sprechende Bevölkerung war dafür, die Unabhängigkeitsregierung in Nairobi dagegen. Sie verweigerte die Lossagung. Seitdem kam es immer wieder zu Aufständen, die gewaltsam niedergeschlagen wurden. Massaker an der somalischen Minderheit wurden dokumentiert. Bis 1992, also bis zur Gründung Dadaabs, herrschte in der Provinz Ausnahmezustand. Der kollektive Terrorverdacht gegen die somalischen Flüchtlinge lässt sich auch vor diesem Hintergrund erklären.

Kenia und die Welt

Nairobi ist mittlerweile Anziehungspunkt für Arbeitsmigranten aus ganz Ost- und Zentralafrika. Im Zuge der Integration in die Ostafrikanische Union (EAC) und ihrer Vereinbarung über den freien Waren- und Personenverkehr, auch in Bezug auf Arbeitskräfte und Dienstleistungen, suchen immer mehr gut ausgebildete Ugander, Ruander oder Burundier in Nairobi nach Jobs, vor allem im IT- und Dienstleistungssektor. Für westliche Mitarbeiter internationaler NGOs wird es umgekehrt schwieriger, in Kenia eine Arbeitserlaubnis zu bekommen. Die Regierung will gut bezahlte Jobs den eigenen Landsleuten geben. Europäern und Amerikanern wird systematisch die Arbeitserlaubnis verweigert.

Auch wenn Kenia mittlerweile ein Mittelstandsland ist (lower middle income country), bleibt die Entwicklung in der Peripherie aus, die Korruption ist enorm. Das Land bleibt von Entwicklungshilfe abhängig. Diese wird jedoch zunehmend reduziert, die extreme Korruption wirkt auf westliche Geldgeber abschreckend. ODA-Mittel können aufgrund der Kategorisierung als Mittelstandsland nicht mehr geltend gemacht werden.

In Hinsicht der Migrationsabwehr ist Kenia für die EU de facto uninteressant: Gerade einmal 480 illegale Immigranten aus Kenia trafen 2015 in der EU ein. Davon wurden 130 bereits an der Außengrenze abgewiesen, 310 der Asylantrag verweigert, 60 stattgegeben. Kenia gilt als sicheres Herkunftsland – mit Ausnahme für Schwule und Lesben. Befürchtungen, Zehntausende Somali würden sich im Zuge der Schließung von Dadaab auf den Weg Richtung Europa machen, sind unbegründet. Der Flüchtlingssprecher von Dadaab, Abdullahi Ali Aden, gibt an: Die Überlegung vieler junger Männer scheitere am mangelnden Geld. Eine Reise nach Europa wäre nur unter Einsatz des Lebens per Boot möglich, doch aufgrund der mangelnden Bewegungsfreiheit in Kenia, den zahlreichen Straßensperren und der Investition von mehr als 10.000 Dollar für eine Bootsfahrt durch den Golf von Aden ins Rote Meer sei eine solche Reise für die Flüchtlinge in Dadaab unerschwinglich. Nach Uganda wollen viele, weil sie dort mehr Freiheiten und Bleiberechte genießen – nach Europa jedoch nicht.

Dementsprechend hat Kenia auf dem EU-Afrika-Migrationsgipfel 2015 in Maltas Hauptstadt Valletta aus dem EU-Treuhandfond für Afrika nur geringe Mittel zugesagt bekommen. Im Rahmen der Unterstützung von Pastoralisten-Völkern in der Grenzregion zwischen Südsudan, Äthiopien und Kenia wird die EU 28 Millionen Euro in Landwirtschaftsprojekte und Ernährungssicherheit investieren. Dazu kommen 12 Millionen Euro. Die sollen in verbesserte wirtschaftliche Chancen für Jugendliche investiert werden, die in unterentwickelten Regionen entlang der Küste zu Somalia oder dem Norden entlang der Grenze zu Südsudan leben. Es sollen vor allem Berufsschulen eingerichtet werden.

Geringe Unterstützung für das nötigste

Die Europäische Kommission hat 2015 das Budget des Aktionsplans für sogenannte gemischte Migrationsströme am Horn von Afrika auf sechs Millionen erhöht. Die Länder, darunter Kenia, sollen unterstützt werden, ihre Kapazitäten auszubauen, um mit den Migrationsbewegungen umzugehen. Der Anteil für Kenia ist marginal.

Kenia ist ein eher zu vernachlässigendes Partnerland der EU im sogenannten Khartum-Prozess. Unter dem Schlagwort „Besseres Migrationsmanagement“ wird die EU mit 45 Millionen Euro Projekte zur besseren Regulierung von Migration in neun Ländern im Horn von Afrika umsetzen, darunter Kenia.

Die EU unterstützt in Dadaab bislang die dort aktiven NGOs und das UNHCR mit Geldern. CARE erhielt in den vergangenen acht Jahren von der EU-Hilfsagentur ECHO 1,5 Millionen Euro jährlich für Wasserversorgung und Sanitärprojekte. Auch das Auswärtige Amt hat Wasserversorgungs- sowie Bildungsprojekte in Dadaab finanziert.

Die deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit leistet Unterstützung für südsudanesische Flüchtlinge und aufnehmende Gemeinden in Kenia durch Maßnahmen für Ernährungssicherung, bessere ärztliche Versorgung. Gestärkte Konfliktbearbeitungsmechanismen richten sich gleichermaßen an die Flüchtlinge und an die lokale Bevölkerung in der Grenzregion zu Südsudan, also in und um das Lager Kakuma. Sämtliche Projekte in Dadaab wurden bereits abgeschlossen

Die Bundesregierung gilt als zweitwichtigster Partner Kenias, nach den USA. Entwicklungsminister Gerd Müller besuchte im März 2016 Dadaab: „60 Millionen Flüchtlinge weltweit stellen viele Entwicklungsländer vor gewaltigen Herausforderungen“, sagte er dort: „90 Prozent haben in Entwicklungsländern Zuflucht gefunden. In einer gemeinsamen Kraftanstrengung muss die internationale Gemeinschaft den Menschen vor Ort wieder Perspektiven geben.“

Aufrüstung in Milliardenhöhe

Nach dem Westgate-Anschlag hat Kenia hochgerüstet. Enorme 2,6 Milliarden Dollar umfasst das Verteidigungsbudget im Haushaltsjahr 2016/2017: davon gehen 1,2 Milliarden an den Geheimdienst und 1,2 Milliardenan das Innenministerium, welchem Polizei und Anti-Terror-Spezialkräfte unterstehen – ein gigantisches Budget für ein afrikanisches Land. Die Hochrüstung ist sichtbar: Überall in Nairobi hängen Überwachungskameras, sind schwer bewaffnete Sicherheitskräfte der Anti-Terror-Einheiten stationiert, selbst in Supermärkten oder Banken. Der internationale Flughafen in Nairobi wurde mit Überwachungskameras ausgestattet, ebenso der Containerhafen in der Küstenstadt Mombasa. Jede Abflughalle des großen Flughafens in Nairobi ist mit Ganzkörper-Scannern ausgestattet.

Kenias Grenzposten wurden landesweit mit Computern, Fingerabdruckscannern und Gesichtserkennungssystem ausgestattet. In den vergangenen Jahren druckte eine israelische Firma biometrische Pässe für Kenianer und baute die Datenbanken dazu auf. Auch biometrische Personalausweise wurden ausgegeben. Bei der Vertragsvergabe gab es Kontroversen, angeblich habe das Präsidentenbüro entschieden, welche Firmen den Zuschlag erhalten. Eine britische Sicherheitsfirma mit Tochter in Kenia bekam den Auftrag, die Pässe zu drucken. Nadra, eine Agentur des pakistanischen Innenministeriums, entwickelt die Software. Ab 2017 wollen die Mitgliedsstaaten der Ostafrikanischen Union (EAC) gemeinsame Pässe einführen.

Durch verstärkte Sicherheitstechnologien konnten Fluggesellschaften jüngst erstmals wieder Direktflüge zwischen Nairobi und Mogadishu aufnehmen. Mit dem elektronischen Visa-Verfahren erhalten jetzt auch Somali Einreise nach Kenia. Jeder Visaantrag wird mit der Geheimdienstdatenbank abgeglichen. Auch Direktflüge in die USA sollen ab 2017 wieder möglich sein. Die staatliche Fluggesellschaft KenyaAirways hatte aufgrund der Sicherheitsrisiken enorme Verluste hinnehmen müssen und stand kurz vor der Pleite. Langsam erholt sich Kenias Tourismussektor, immerhin der wichtigste Wirtschaftszweig und Devisenfaktor. Er war im Zuge der Westgate-Attacken und den Überfällen in der Küstenstadt Lamu eingebrochen. Das Vertrauen westlicher Safari-Touristen in die Sicherheitsorgane kommt langsam zurück. Erst 2016 stiegen die Touristenzahlen wieder.

Eine Mauer aus Israel

„Koste es was es wolle“, hatte Kenias Vizepräsident William Ruto betont, als er 2015 die Entscheidung verkündete, eine Mauer zu Somalia zu bauen. Über 700 Kilometer ist der Grenzabschnitt lang, mitten durch die Wüste und das Shabaab-Gebiet. Betonmauer, Grenzanlagen, Überwachungskameras und Patrouillen-Fahrzeuge werden benötigt.

Auch deutsche Firmen haben sich für diesen Großauftrag interessiert. Die deutsche Internationale Handelskammer hatte 2015 eine „Markterkundungsreise“ im Bereich zivile Sicherheitstechnologien nach Kenia organisiert. Treffen mit dem Verteidigungsministerium und Anti-Terror-Einheiten standen auf dem Programm. Deutschlands führende Rüstungs- und Sicherheitsunternehmen wie Rheinmetall und Siemens waren dabei.

Letztlich erhielt die israelische Firma Magal Security den Zuschlag für den Mauerbau sowie den Ausbau der Sicherheit an Flughafen und Hafen. Israel hatte sich seit den Westgate-Anschlägen als enger Partner erwiesen. Das Einkaufszentrum gehört einem israelischen Investor. An den Eingangspforten mit Sicherheitsscannern sind heute israelische Wachleute in Zivil postiert.

Israels Grenzanlagen zu Palästina, Ägypten und Jordanien gelten als Prototyp moderner High-Tech-Zäune mit Bodensensoren, Wärmebildkameras sowie Satelliten- und Drohnenüberwachung aus der Luft. Die ambitionierten Pläne Kenias scheitern jedoch an der Wirklichkeit: Bauarbeiten, geschützt von der Armee, mussten aufgrund von Shabaab-Attacken eigestellt werden. Als überteuert gilt der Aufwand allemal, da die Terrormiliz längst innerhalb Kenias Basen hat. Als „Gipfel der Sinnlosigkeit“ kritisierte jüngst George Morara, Vize-Direktor von Kenias Menschenrechtskommission den Mauerbau.

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