Viermal Vielerlei

2016 Das Team der taz.leipzig hat sich das ablaufende Jahr noch einmal ganz genau angesehen – Quartal für Quartal

Maria Gramsch Foto: Julia Regis

1 „Was war das für 1 Jahr von Nachrichten her“, fragt die Tagesschau auf ihrer Facebook-Seite über einem Beitrag zum Hashtag #scheißjahr. Das Internet ist voll mit Beschwerden über 2016 – doch wie schlimm war es wirklich? Und vor allem: Wie war 2016 in Leipzig? Das haben wir uns auch gefragt und uns das mal genauer angeschaut.

Natürlich ging es in diesem Jahr wieder mit einer traditionellen Nachricht los – das Neujahrsbaby Maya kam in der Leipziger Uniklinik kurz nach 1 Uhr zur Welt. #frischgeschlüpft startet auch der Leipziger Zoo ins neue Jahr. Tupfenhyänen-Weibchen Dara hat am 3. Januar zwei Junge zur Welt gebracht. Und auch in der Kiwara-Savanne gab es Nachwuchs im Doppelpack – nämlich bei den Zwergflamingos (Phoeniconaias minor). Das sind Lokalnachrichten, wie man sie sich wünscht. Ein #scheißjahr war es dann aber im Zoo doch noch – und zwar für Elefantenkuh Thura. Ende Januar wurden bei einer Ultraschalluntersuchung keine Lebenszeichen bei ihrem ungeborenen Kalb festgestellt. #RIP

Aber noch mal kurz zurück zum Jahreswechsel: Denn in der Silvesternacht wurde nicht nur mit Feuer(werk) am Himmel gezündelt. Auch auf dem Gelände des Hauptzollamts ging es heiß her. Und jetzt Achtung Alliteration: acht ausgebrannte Autos. #ichgehinflammenauf hieß es auch Ende Februar beim Leipziger Ordnungsamt. Hier wurde es jedoch nicht ganz so spektakulär – nur anderthalb verbrannte Fahrzeuge und ein nicht gezündeter Brandsatz. Apropos explosiv: Ende März wurde bei Bauarbeiten an einem Güterbahnhof eine Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden, der 500 Kilogramm schwere Blindgänger musste gesprengt werden. Mehrere hundert Menschen wurden evakuiert. #safetyfirst

Sicherheit wünscht man sich ja auch, wenn man mit den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs ist. Dass das jedoch nicht immer so einfach ist, haben wir im ersten Quartal 2016 direkt mehrfach sehen dürfen. Anfang März haben zwei betrunkene zwölfjährige Mädchen in einer Straßenbahn randaliert. Bevor sie ihren Alkoholkonsum reziprok in die Bahn entleerten, sollen sie mehrere Sitze aus der Bahn gerissen haben. #alkoholverleihtflügel

Leipzigs Busse sind nicht weniger gefährlich: Mitte Februar hat eine 27-Jährige einen Busfahrer mit einem Bockwurstglas beworfen, als dieser ihre Fahrkarte kontrollieren wollte. Die gute Frau hatte zwar keine, wollte aber offensichtlich unbedingt ihre Einkäufe mit dem Busfahrer teilen. Vielleicht war es aber auch die Freude, die sie zu ihrer Tat bewegte: denn seit diesem Jahr gibt es in Leipzig viel mehr mobile Bratwurststände als noch im letzten Jahr. Elf Standorte allein in der Innenstadt! #zukrass

Und sonst so? Weniger Legida, dafür Neonazi-Verwüstungs-aufmarsch in Connewitz

Und sonst so? Weniger Legida, dafür Neonazi-Verwüstungsaufmarsch in Connewitz. Natürlich auch mal wieder neue Bebauungspläne für das Burgplatzloch – aber keine Sorge, der Krater ist weiter unversehrt. Ein neues Goldenes Buch. #nummersechs #wow Ein Neuversuch bei der Rektoratswahl der Uni Leipzig. Erstmalig noch Karten beim Fasching der Deutschen Hochschule für Körperkultur. #wtf Und natürlich: ein Streit zwischen Pizzabäckern mit anschließender Messerstecherei. #nochkrasser #nichtaufdereisenbahnstraße Maria Gramsch

Sarah Emminghaus Foto: Ulrike Abromeit

2 Was ist schon besinnlicher als 40.000 Katholiken in Leipzig? Das in dem Bundesland liegt, in dem nur ein Fünftel der Bevölkerung christlich ist und insgesamt nur 4 Prozent überhaupt katholisch. Zum Vergleich: Deutschlandweit sind 60 Prozent christlich und insgesamt 30 Prozent katholisch. Man hätte sich also eine passendere Stadt aussuchen können, um die wichtigste katholische Veranstaltung in Deutschland auszurichten. Die Leipziger waren in den Wochen vorher entsprechend genervt. Was allerdings kein Vergleich zur Veranstaltung selbst war – es gibt wenig, was so anstrengend ist wie 40.000 Katholiken.

Wobei. Im Mai fand außerdem das Wave-Gotik-Treffen in Leipzig statt. Aber im Gegensatz zu den Katholiken waren die Goths wenigstens spannend anzusehen und hatten nicht einfach nur kollektiv grüne Schals um. Und von ihnen gab es nur halb so viele; die Veranstalter sprechen von 23.000 Besuchern – und die waren zum großen Teil auch nicht in der Innenstadt, sondern schön auf dem Agra-Veranstaltungsgelände verstaut.

Aber zurück zur Besinnlichkeit. Nach ganz schön viel hin und her hat die Stadt endlich entschieden, wer die Nachfolge des Thomaskantors antreten, also den berühmten Leipziger Knabenchor anleiten soll. Eine große Aufgabe: Johann Sebastian Bach hatte sie auch schon einmal inne. 42 Bewerber haben sich bemüht und gequält, und am Ende wurde es der, der es sowieso schon war. Gotthold Schwarz hatte die Thomaner bereits unterrichtet, seit der vorherige sein Amt 2015 wegen Krankheit niedergelegt hatte. Von all den externen Bewerbern war wohl keiner gut genug für Oberbürgermeister Burkhard Jung und seine Auswahlkommission.

Gut genug für die Bundespolitik findet die Leipziger CDU-Bundestagsabgeordnete Bettina Kudla anscheinend Alexander Gauland, den brandenburgischen AfD-Chef. Der hatte den Fußballspieler Jérôme Boateng rassistisch beleidigt („Die Leute finden ihn als Fußballspieler gut. Aber sie wollen einen Boateng nicht als Nachbarn haben.“), und Kudla fand das nicht so wild: „Ich glaube, es ging ihm im Kern darum, dass Leute Bedenken haben, dass zu viele Migranten nach Deutschland ziehen.“ Ja, darum ging es ihm wahrscheinlich tatsächlich. Das ist aber genau der Rassismus, der von allen Seiten kritisiert wurde.

Überhaupt hatte Kudla dieses Jahr einen Lauf: Kurz darauf stimmte sie als einzige Bundestagsabgeordnete gegen die Armenien-Resolution. Die Resolution, in der die Bundesregierung das, was 1915 im Osmanischen Reich geschah, erstmals als Völkermord an den Armeniern bezeichnet.

Im Gegensatz zu den Katholiken waren die Goths wenigstens spannend anzusehen

Was sie wohl von Oobi-Ooobi hielt? Der süße Ausländer-Koala war bei der Fußball-Europameisterschaft dieses Jahr zwar nicht so erfolgreich wie Boateng, aber dafür viel niedlicher anzusehen. Und ein Wahlleipziger! Oobi-Ooobi ist in einem belgischen Tierpark geboren und wohnt seit diesem Jahr im Leipziger Zoo. Er wurde als EM-Orakel ins Rennen geschickt: „Als Australier hat er einen unparteiischen Blick auf das europäische Fußballgeschehen“, sagte eine Zoo-Sprecherin. Als er das erste Mal tippen durfte, konnte er sich einfach nicht entscheiden – Koalas sind leider auch nicht für ihre Schnelligkeit bekannt. Daraufhin flog er aus dem Orakelrennen. Da war er wohl zu unparteiisch. Sarah Emminghaus

Markus Lücker Foto: privat

3 Juli. Mein Juli-Ich macht sich auf den Seiten seines schwarzen Tagebuchs Sorgen um fünf braune Punkte, links von seinem Bauchnabel. „Vermutlich werde ich demnächst daran sterben, so wie ich mich kenne.“ Es ist kein guter Monat: In der Türkei führt der gescheiterte Putschversuch zu zehntausenden verhafteten Beamten, in Cleveland wird Donald Trump zum Präsidentschaftskandidaten der Republikaner ernannt.

Es herrscht Paranoia. Überall werden dunkle Kräfte befürchtet – auf der Welt, zwischen den fünf Punkten neben meinem Bauchnabel und selbst in Leipzig.

Hier spielt das Unternehmen Unister die Hauptrolle in den Verschwörungstheorien, der Anbieter von Webportalen wie fluege.de und ab-in-den-urlaub.de. Die später gesponnenen Geschichten bieten alles: einen Flugzeugabsturz über der Slowakei, bei dem unter anderem der Gründer Thomas Wagner stirbt, einen geheimnisvollen Geldkoffer, Neonazis, einen israelischen Diamantenhändler, Schulden, Kredite, Millionengeschäfte und neben Wagner selbst noch drei weitere Leichen. Es ist eine willkommene Abwechslung, eine Tragödie mit einem Hauch von Hollywood.

Am Ende dieses Abenteuers steht ein insolventes, aber mittlerweile stabilisiertes Unternehmen, 900 verbleibende Mitarbeiter und ein Prozess gegen drei frühere Unister-Manager im Januar 2017. Es wird um Steuerhinterziehung gehen, um den unerlaubten Verkauf von Versicherungen sowie banden- und gewerbsmäßigen Computerbetrug.

Vielleicht erfahren wir dann auch endlich, was die Freimaurer, der Mossad, der Papst, Hitler, die CIA und Chemtrails mit dem Flugzeugabsturz zu tun hatten. Mit ein wenig Glück werden noch Verbindungen zur lokalen Rockerszene aufgedeckt. Zeitnah zum Unister-Absturz knallen sich Hells Angels und United Tribuns auf der Eisenbahnstraße ab. Leipzig verhängt eine Rockerquarantäne. 54 Stunden lang darf kein Mitglied von außerhalb in die Stadt. Zufall? #WakeUpPeople #UnisterWasAnInsideJob #IlluminatiConfirmed

Die Polizei sucht nach einer MP, die ein Beamter an einer Tankstelle verbummelt hat

Mein August-Ich schreibt mittlerweile nur noch die Wörter „immer noch da“ in sein schwarzes Tagebuch – wieder und wieder. Als müsste es sich von seiner eigenen Existenz überzeugen. Immer noch da. Immer noch da. Immer noch da. Wem kann man noch vertrauen? Die Leipziger Polizei sucht gerade nach einer Maschinenpistole, die ein Beamter an einer Tankstelle verbummelt hat. Der vom Gesundheitsministerium veröffentlichte Suchtbericht zeigt: In der Stadt steigt die Zahl der Crystal-Meth-Abhängigen. Vor dem Alten Rathaus bilden Leipziger eine Kette, um den Weltrekord für das größte Herz aus Menschen zu knacken. Sie scheitern, wie sollte es anders sein.

Wie all diesem Elend Herr werden? Plötzlich Terroralarm im Luxushotel Fürstenhof. Großeinsatz. Spengstoffspürhunde durchsuchen das Gebäude. Die Auflösung: Alles nur ein Scherz, ein Telefonstreich. Die Verantwortlichen: zwei Jugendliche. Die Kosten: wahrscheinlich sechsstellig. Doch es tut sich Großes auf, die taz gebärt ein neues Kind. Am 23. September wird die erste taz.leipzig-Seite veröffentlicht. Seitdem berichten wir an dieser Stelle über die Stadt. Das Grauen kann also weitergehen. Markus Lücker

Hanna Voß Foto: Kahwe Mohammady

4 Kaum hat die taz ihre eigene Leipzig-Seite, überschlagen sich in der Stadt die Ereignisse: Anschläge auf diverse Parteibüros (das der Linken in Delitzsch und Connewitz, das der CDU von Umvolkungs-Kudla), Terrorverdächtige, die während der heiligen „Tatort“-Zeit am Leipziger Hauptbahnhof herumspazieren, Suizide der selbigen und ein neuer Bundesliga-Tabellenführer.

Doch der Reihe nach: Zugegeben, Anschläge auf Büros von Abgeordneten gab es auch vor der Leipzig-Seite schon. Und wer den Träger des Leipziger Friedenspreises Can Dündar als „Dünnschiss“ bezeichnet und für die Deutschen eine Umvolkung voraussagt, braucht sich nicht wundern, wenn das eigene Büro nicht verschont bleibt. Doch wer heutzutage meint, nur so seine Wähler*innen bei der Stange halten zu können, der bedient sich eben dem Vokabular der AfD. Und produziert so selbst nur Dünnschiss.

Die Geschichte um Jaber al-Bakr war dann aber doch mal etwas ganz Neues für die Stadt. Nachdem der mutmaßliche Terrorverdächtige der Polizei in Chemnitz noch entkommen war, suchte er am Leipziger Hauptbahnhof nach Hilfe. Er fand einige Landsleute, die ihn mit zu sich nach Hause nahmen und als den gesuchten Syrer erkannten. Schwupps, einmal mit Kabelbinder und Dreierverteiler umwickelt, der Polizei übergeben, fertig. „Jetzt nehmen die Ausländer unserer Polizei auch noch die Arbeit weg“, wurde auf Twitter gewitzelt. Wobei, vielleicht war das auch gar nicht so sehr gewitzelt. Denn schlechter als in der JVA Leipzig hätte es dann nicht weiterlaufen können. Kurz nach seiner Festnahme erhängte sich al-Bakr in seiner Zelle. Und noch schlimmer: Sebastian Gemkow, das Justizmonchichi Sachsens, sitzt anschließend in jeder denkbaren Talkshow. Zeit zurückzutreten bleibt da natürlich keine.

Fehlen dann noch diese Gruselclowns. Womit nicht die Gestalten gemeint sind, die Anfang November drei Grünen-Politiker*innen in ihrem Zug nach Leipzig attackierten. Und auch nicht die Lok-Fans, die angesichts des brisanten Stadtderbys zwischen Lok und der BSG Chemie Dutzende grün-weiß angemalte Strohpuppen von Autobahnbrücken baumeln ließen. Auch nicht Helene Fischer. Herrje. Ein Lichtblick bei all dem Gegrusel: Auch die kürzlich mit dem Friedenspreis ausgezeichnete Carolin Emcke reiste nach Leipzig. Sonst hätten wir ja permanent Halloween gehabt.

Die Geschichte um Jaber al-Bakr war dann aber doch mal etwas ganz Neues für die Stadt

Im Dezember dann die Überraschung schlechthin: RB – vorher ungeschlagen – hat verloren! Und das ausgerechnet gegen den Tabellenletzten FC Ingolstadt. Außerdem stellte der Verein eine Bauvoranfrage an die Stadt. Ob es wohl möglich sei, die Plätze in der Red-Bull-Arena von 44.000 auf 57.000 aufzustocken. Denn die große Frage lautet: Spielt RB künftig im Stadion in der Innenstadt oder lässt man ein neues auf der sagenumwobenen „grünen Wiese“ bauen? Daraus wird nun nichts. Red Bull, diese Firma aus Österreich, die irgendwie mit dem Klub verbandelt sein soll, kauft das Zentralstadions samt Haupt- und Nebengebäude sowie Glockenturm. Es geht also am gewohnten Ort weiter. Und wir, liebe taz-Leser, machen auch im nächsten Jahr mit der Leipzig-Seite weiter. Versprochen. Hanna Voß