Selbstversuch Neue Ausgaben von Henry David Thoreau, dem Mitbegründer der US-Literatur
: Leben lernen

„Etwas anderes sein als eine Maschine“: H. D. Thoreau, Juni 1856 Foto: Granger NYC/Ullstein Bild

von Frank Schäfer

Henry David Thoreau war ein halsstarriges Landei, das, von seinem vierjährigen Studium am nahen Harvard College, ein paar Reisen und einer an Heimweh scheiternden Anstellung als Hauslehrer auf Staten Island abgesehen, sein Heimatnest Concord, Massachussetts, nie verlassen hat und doch kosmopolitischer und progressiver dachte als die meisten Weltbürger Mitte des 19. Jahrhunderts. Sein Vater besaß eine Bleistiftfabrik, und weil die zu wenig abwarf, führte seine Mutter eine Gelegenheitspension. Er selbst verdingte sich als Lehrer, bekam aber bald Streit mit der Schulbehörde. Er sah nicht ein, warum er seine Schüler körperlich züchtigen sollte. Und so gründete er mit seinem Bruder eine Privatschule, in der er die alten Sprachen, Mathematik, Englisch, aber auch praktische Kenntnisse wie Bootsbau oder das Vermessen eines Grundstücks unterrichtete. Zudem führten die beiden dreißigminütige Pausen ein anstelle der üblichen zehn Minuten.

Thoreau verteidigte die Abolitionisten, sogar die militante Fraktion um John Brown, der mit barbarischen Guerillaak­tio­nen die Befreiung der Schwarzen erkämpfen wollte, wetterte gegen den Expansionskrieg der Vereinigten Staaten gegen Mexiko und weigerte sich, Steuern zu bezahlen, weil er eine solche Regierung nicht mit seinem Geld unterstützen wollte. Das brachte ihn für eine Nacht ins Gefängnis. Er musste seine Zelle am nächsten Tag wieder räumen, weil ein Unbekannter, vermutlich seine Tante, das Geld hinterlegte.

Thoreau ging es um Grundsätzliches, das er dann auch in seinem Essay „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“ darlegte. Ein Jahrhundert später avancierte die Schrift zum Handbuch für Martin Luther King und Ghandi. „Muss der Bürger auch nur einen Augenblick, auch nur ein wenig, sein Gewissen dem Gesetzgeber überlassen?“, fragt Thoreau darin. „Wozu hat denn jeder Mensch ein Gewissen? Ich finde wir sollten erst Menschen sein, und danach Untertanen.“

Die Idee der Welt spiegelt sich im kleinsten Detail

Thoreau war kein Provinzler aus Zwang, sondern aus Neigung. Er gehörte dem Kreis der Transzendentalisten um Ralph Waldo Emerson an. Und nach deren Lehre spiegelt sich sowieso im kleinsten Detail die große spirituelle Idee, die den ganzen Weltenladen im Kern zusammenhält. Insofern konnte man ruhig zu Hause bleiben – und konnte Thoreau ganz ohne Ironie von sich behaupten: „Ich habe in Concord große Reisen unternommen.“

Seine größte dauerte genau zwei Jahre, zwei Monate und zwei Tage. Mithilfe seiner Transzendentalisten-Freunde zimmerte er sich auf Emersons Grundstück nahe dem Walden-See eine Blockhütte und begann „zufällig“ am Unabhängigkeitstag 1845 sein „Experiment“. „Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näherzutreten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hatte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müsste, dass ich nicht gelebt hatte.“

Es ging ihm nicht so sehr um den Ausstieg aus dem Sozialgefüge. Er hielt weiterhin Vorträge in Concord, traf seine Freunde und nahm Gelegenheitsarbeiten an. Thoreau wollte vor allem das zermürbende Leben als Erwerbstätiger hinter sich lassen, um genügend Zeit zu haben für sich. Schon bei ihm, also in einer Epoche, die im Vergleich zu unserer noch im Schneckentempo verlief, findet man die Klage über das gehetzte, entfremdete Leben. „Tatsächlich hat der arbeitende Mensch Tag für Tag keine Muße zu einer wahren Ganzheit […], er hat keine Zeit etwas anderes zu sein als eine Maschine.“

Thoreaus Selbsterfahrungstrip sah nun vor, das Leben ökonomisch zu vereinfachen, seine Bedürfnisse auf das Wesentliche zu reduzieren, um dadurch die Freiheit zu haben, zum „wirk­lichen Sein“ vorzudringen. Und die einige Jahre später aus seinen Tagebüchern hervorgehende Reihe von Essays, die er zu dem Buch „Walden oder Leben in den Wäldern“ zusammenfasst, ist das poetische getreuliche Protokoll dieses Selbstversuchs und zugleich ein Manifest seiner lebensreformerischen ­Mission.

Man hat ihm gelegentlich vorgeworfen, er mache aus seinen privaten Überzeugungen ein Gesetz. Er sah so etwas kommen. Er wolle um keinen Preis, dass irgendjemand seine „Lebensweise befolge“, schreibt er an einer Stelle, sondern „jeder recht sorgfältig trachtete, seinen eigenen Weg zu finden“. Aber die Imagination seiner märchenhaften Walden-Existenz war dann doch so suggestiv und schön, dass sich die Ökofreaks, Landkommunarden, Waldläufer und Naturapostel zu allen Zeiten gern von ihm anfixen ließen.

Mit Thoreau – unter anderen – beginnt die eigentliche US-amerikanische Nationalliteratur. Entsprechend gut erschlossen ist dort sein Werk und entsprechend ausdifferenziert die Forschung, vergleichbar mit dem Werk Goethes hierzulande. In deutscher Übersetzung liegen mittlerweile neben seinen beiden zu Lebzeiten erschienenen Büchern „Walden“ und „A Week on the Concord and Merrimack Rivers“ die meisten, aber längst noch nicht alle seiner Essays und Reiseerzählungen vor. Leider sind die Ausgaben oftmals vergriffenen. Einen Thoreau-Reader mit den wichtigsten kulturkritischen Essays, seinen flammenden Polemiken gegen die Sklaverei und nicht zuletzt den Reisegeschichten, müsste endlich mal ein Verlag in Angriff nehmen – anstatt der x-ten Neuauflage von „Walden“ oder seiner Meditation über das „Wandern“.

Immerhin, ein noch beinahe unentdeckter Schatz wird gerade vom Verlag Matthes & Seitz zumindest teilweise gehoben – die Tagebücher. Die in diesem Jahr begonnene und auf 12 Bände angelegte Edition erschließt etwa die Hälfte des vollständigen Korpus, das immerhin 47 Kladden bzw. über 7.000 gedruckte Seiten umfasst. Von der unermüdlichen Susanne Schaup, die soeben die beiden Essays „Herbstfarben“ und „Ein Winterspaziergang“ übertragen hat, stammt die bis dahin einzige Auswahl-Edition („Aus den Tagebüchern 1837–1861“), und die ist gerade mal 300 Seiten lang.

„Gibt es für einen Dichter überhaupt ein anderes Werk als ein gutes Tagebuch?“

Henry David Thoreau

Emerson, Thoreaus väterlicher Freund, hatte ihn animiert. „ ,Was tun Sie gerade?‘, fragte er. ,Führen Sie Tagebuch?‘ Also mache ich heute meinen ersten Eintrag.“ So beginnt er am 22. Oktober 1837 seine Arbeit am Dia­rium, das er 24 Jahre lang, bis einige Monate vor seinem Tod, führen wird. Er betrachtet es zunächst vor allem als Material­fundus, als Sudelbuch, aus dem die eigentlichen Schriften entstehen sollen. Allerdings geht es nie wirklich auf in dieser Funktion. Von Anfang an notiert er sich auch Beobachtungen aus seinem Alltag.

Aber Thoreau denkt zu keiner Zeit wirklich an eine Pu­bli­ka­tion. Zunächst schneidet er sogar Seiten heraus, um sie für seine Vorträge und Essays zu verwenden. Später scheint er das Tagebuch mehr und mehr als eigenständiges literarisches Werk wahrzunehmen. „Ist ein Dichter nicht verpflichtet, seine eigene Biografie zu schreiben? Gibt es für ihn überhaupt ein anderes Werk als ein gutes Tagebuch?“, schreibt er am 21. Oktober 1857. „Wir möchten nicht wissen, wie sein imaginärer Held, sondern wie er, der wirkliche Held, Tag für Tag lebte.“

So gewinnen die „Journals“ mit der Zeit an Geschlossenheit und Konsistenz. Und vor allem Erdung. Während in diesem ersten Band noch Lesefrüchte, religiöse Aphorismen und lebensphilosophische Räsonnements viel Raum einnehmen und durch ihre akademische Blutleere und rhetorische Gestelztheit die Tagebücher nicht immer zu einer spannenden Lektüre machen, bekommen später die Realien mehr Bedeutung.

Der Auftaktband der Edition wurde kritisch aufgenommen, vor allem die FAZ hat sich abfällig geäußert. Tatsächlich hätte ein Namensregister, eine Kopfzeile für die jeweilige Jahresangabe des Notierten, vor allem aber ein Anmerkungsapparat, der den Namen verdient, die Handhabbarkeit des Bandes enorm verbessert. Wie so ein Anmerkungsteil aussehen könnte, zeigt gerade Klaus Bonns kleine Edition von Thoreaus romantisierendem Nachtwanderungsrapport „Nacht und Mondlicht“.

Die sich wie immer an ein paar fehlerhaften oder unglücklichen Passagen reibende Übersetzungskritik scheint aber überzogen. Gerade der ambitionierte, in den alten Sprachen bewanderte ­Jungschriftsteller und transzendentalistische Schwärmer ist eine Herausforderung. Rainer G. Schmidt findet durchaus immer wieder gute Lösungen. Seine Übertragung ist im Detail präziser und näher am Original als die ältere von Schaup, die gern Satzteile oder ganze Sätze ohne Auslassungszeichen tilgt.

Henry David Thoreau: „Tagebuch I“. Aus dem Englischen von Rainer G. Schmidt. ­Matthes & Seitz, Berlin 2016, 328 Seiten, 26,90 Euro

„Herbstfarben“. Aus dem Englischen von Susanne Schaup. Verlagsbuchhandlung Stefan Göbel, Leipzig 2016, 128 Seiten, 9,95 Euro

„Nacht und Mondlicht“. Aus dem Englischen von Klaus Bonn. BoD E-Short, Norderstedt 2016, 16 Seiten, 1,99 Euro.

2017 erscheint von Frank Schäfereine Thoreau-Biografie im Suhrkamp-Verlag