Virtual Reality: Der totale Film

Wie verhält sich die VR-Technik zum Realismusgebot des Kinos? Neue Filme zeigen die Möglichkeiten des Kinos – und die Grenzen.

Menschen sitzen in einer Reihe und tragen VR-Brillen

Virtual Reality ist keine Zukunftsmusik mehr Foto: dpa

BERLIN taz | Ein Ausflug in die virtuelle Realität: Auf dem Markt der Filmfestspiele von Cannes wird Journalisten die Möglichkeit gegeben, Oculus-Rift-Brillen zu testen, taucherbrillenförmigen Headsets mit eingebauten Bildschirm und Kopfhörern, die ein 360-Grad-Filmerlebnis ermöglichen. Die Software erkennt Kopfhaltung und -bewegung, spielt in Echtzeit stereoskopische Doppelbilder auf den wenige Zentimeter von den Augen entfernten Bildschirm, die dem eigenen Blickwinkel entsprechen.

Gezeigt wird der Kurzfilm „Giant“. Die serbische Regisseurin Milica Zec versucht darin ihre Erlebnisse als Jugendliche während der Bombardierung durch Nato-Flugzeuge im Jahr 1999 für den Zuschauer nachvollziehbar zu machen. „Giant“ spielt in einem improvisierten Luftschutzkeller. Ein junges Paar versucht ihrer kleinen Tochter zu erklären, warum sie sich unter der Erde verstecken müssen. Die Eltern erfinden eine rührende Geschichte über Riesen, um ihrem Kind ein wenig die Angst zu nehmen. Am Ende wird das Haus von einer Bombe getroffen und die Kellerdecke stürzt ein. Wenn die Balken um einen herum niederstürzen, ist es fast unmöglich, sich nicht zu ducken. Der Körper reagiert reflexartig, bevor das Bewusstsein Entwarnung geben kann.

Statt wie im Kino eine alternative Realität zu betrachten, „befindet“ sich der Zuschauer beim Virtual-Reality(VR)-Erlebnis tatsächlich in dieser Parallelwelt. Der Illusionsunterschied zwischen 2-D-Kino und VR ist verblüffend. Auch 3-D verringert diesen Unterschied nicht wesentlich. Der Zuschauer wird im herkömmlichen Kino immer das Gefühl haben, nur durch ein Fenster in eine andere Welt zu sehen; ein Fenster, das eine unverrückbare Grenze zwischen inszenierter und „echter“ Realität markiert. VR übertritt diese Schwelle.

Im konventionellen Kino hat die Gewöhnung an die Illusionskraft des neuen Mediums dazu geführt, dass die „suspension of disbelief“, also die Bereitschaft, sich ganz auf die alternative Welt auf der Leinwand einzulassen, eher Merkmal einer gelingenden Erzählung geworden ist als Funktion der Technik: Das Kinopublikum muss sozusagen erst psychologisch in das Erlebnis hineingezogen werden; die Immersion in der Virtual Reality erfolgt dagegen ganz direkt, gewissermaßen „viszeral“.

Gewöhnung an die Illusion

Es lässt sich noch nicht einschätzen, wie weit auch hier beim Betrachter eine Gewöhnung einsetzen wird und damit die Möglichkeit für einen reflektierteren Umgang mit der Illusion. Je stärker dieser Effekt, desto mehr wird auch die VR komplexere narrative Techniken benutzen, um die „suspension of disbelieve“ des Zuschauers wieder zu verstärken. Bedeutet das, dass sich die VR-Geschichte ähnlich wie die Filmgeschichte ab 1910 hin zum abendfüllenden „Spielfilm“ entwickeln wird?

Dem stehen mehrere dem neuen Medium inhärente Probleme im Weg. Zum einen ist noch nicht klar, ob oder wie sich in der Virtual Reality analog zum herkömmlichen Film eine Erzählsprache über die Montage entwickeln lässt. Dass „Giant“ und die meisten VR-Filme nur aus einer oder wenigen durch Abblenden getrennte Einstellungen bestehen, hat gute Gründe. Es hat sich gezeigt, dass plötzliche Änderungen der Raumverhältnisse durch einen harten Schnitt den Zuschauer verwirren oder sogar zu Übelkeit führen können.

Wie lässt sich sicherstellen, dass er im richtigen Moment in die richtige Richtung schaut, um der Handlung zu folgen?

Als noch schwieriger dürfte sich die Zuschauerführung erweisen. Wie lässt sich sicherstellen, dass er im richtigen Moment in die richtige Richtung schaut, um die notwendigen Informationen zu erhalten, die es erlauben, der Handlung zu folgen? Die bisherigen VR-Filme versuchen eine Aufmerksamkeitslenkung durch Lichtführung, Geräusche oder andere „Wegweiser“ zu erreichen, aber sicher kann sich der Regisseur nie sein, dass solche „clues“ vom Zuschauer aufgenommen werden.

Noch ein drittes Problem spricht gegen eine ähnliche Entwicklung von konventionellem und VR-Film: Wenn die Bewegtbild-Erzählung nicht mehr nur durch ein Fenster oder einen Rahmen erlebbar ist, sondern mit der eignen sicht- und hörbaren Realität weitgehend deckungsgleich, will man dann nicht auch mehr Freiheit als nur die der Blickrichtung? Will man nicht zum Akteur werden? Gerade die Teilautonomie in der Virtual Reality weist auf die Grenzen der eigenen Handlungsfähigkeit hin.

Natürlich ermöglichen VR-Computerspiele die Interaktion mit der alternativen Realität. Kommt hier also das Medium erst zu sich selbst, weil es nur hier seine Potenziale voll ausspielen kann? Und was heißt das umgekehrt für das herkömmliche Kino?

Virtual Reality vs. filmischer Realismus

Antworten findet man in der frühen Filmtheorie. Im Jahr 1946 schrieb André Bazin seinen Aufsatz „Der Mythos vom totalen Film“ für die Zeitschrift Critique. Darunter versteht er ein Kino, das „allumfassenden Realismus“ ermöglicht, eine „Wiedererschaffung der Welt nach ihrem eigenen Bild“. Für Bazin gab es solche Filme schon als Idee in den Köpfen der Menschen „wie im platonischen Himmel“, bevor das Kino überhaupt erfunden wurde. Er verdeutlicht seinen Gedankengang mit dem Ikarus-Mythos: Der Traum vom Fliegen existiere, seit der Mensch erstmals einen Vogel am Himmel beobachtete. Aber erst die Erfindung des Verbrennungsmotors ermöglichte die Umsetzung dieses Wunsches. Analog existierte bereits lange der Traum von einer „vollkommenen Illusion des Lebens“, die aber immer noch nicht realisiert worden sei. Seine Schlussfolgerung: „Das Kino ist noch nicht erfunden!“

Wird demnach erst im VR-Game die „Erfindung des Kinos“ vollendet? Natürlich würde man Bazin in dieser Lesart missverstehen: Für den Theoretiker eines filmischen Realismus wären die fantastischen Spielewelten kaum nach seinem Geschmack, er bezieht sich dezidiert auf ein fotografisches Abbild der Welt, auch geht seine Imagination nicht so weit, von einer körperlichen Interaktion mit dem „totalen Film“ zu träumen.

Ein harter Schnitt kann den Zuschauer verwirren oder gar zu Übelkeit führen

Aber ist nicht Bazins „vollkommene Illusion des Lebens“ eng verwandt mit der Sehnsucht nach „Entgrenzung“, die hinter den Parallelwelten der Virtual Reality steht? Eine Sehnsucht, die auch die Aufrüstung des Kinoerlebnisses im Blockbuster-Segment der letzten Jahre antreibt. Verbessertes 3-D, erhöhte Bildfrequenz und Dolby Atmos: 120 Jahre Kinotechnik lassen die Virtual Reality nun aus dem Stand hinter sich.

Das heißt nicht, dass das Spektakelkino damit dem Untergang geweiht ist, aber es bekommt mächtige Konkurrenz: das Blockbuster-Kino der Attraktionen von den neuen Virtuelle-Welt-Angeboten, das „Erzählkino“ vom seriellen Fernsehen und seinen durch aufgehobene zeitliche Beschränkungen überlegenen Möglichkeiten des „world building“ und der Figurenentwicklung. Welche spezifischen Stärken kann das Kino zukünftig noch ausspielen – wenn schon nicht in kommerzieller, dann zumindest in künstlerischer Hinsicht?

Vielleicht kommt man der Beantwortung dieser Frage näher, wenn man einen anderen frühen Theoretiker des Kinos zu Rate zieht, einen intellektuellen Gegenspieler zu Bazin: Rudolf Arnheim. Bazins Vision eines „totalen Films“ findet man bei ihm schon 15 Jahre zuvor – allerdings negativ gewendet unter dem Namen „Komplettfilm“. Dieser sei „die Krönung des jahrtausendelangen Strebens, die Kunst zu Panoptikumszwecken zu missbrauchen“. Arnheim warnt: Glücke der Versuch, „die Flächendarstellung dem als Vorbild dienenden Natur-Raum maximal ähnlich zu machen“, entfielen „alle Formungsmöglichkeiten, die auf diesem Unterschied zwischen Vorbild und Abbild basieren“.

Mangel als Stärke

Für Arnheim lag gerade im „Mangel“ gegenüber der Wirklichkeit“ die spezifische Stärke jeder Kunstrichtung begründet und überhaupt die Voraussetzung für die Möglichkeit von Kunst. Daher war für ihn mit dem späten Stummfilm und dessen hoch entwickelter „reiner“ Bildsprache der Höhepunkt der Filmgeschichte erreicht. Natürlich steht keine Rückkehr ins Jahr 1927 für die Filmgeschichte zur Debatte, aber vielleicht kann die aktuelle Entwicklung der Bewegtbildgeschichte im Kino zumindest die Alternativen zum Diktat einer eskalierenden Immersionslogik und eines bruchlosen „world building“ stärken.

Beispiele dafür gibt es in den letzten Jahren genug: Jean-Luc Godards nichtillusionistischen Einsatz der 3-D-Technik in „Adieu au langage“, Miguel Gomes’ irrwitzige fraktale Erzählung über die Folgen der Finanzkrise in „1001 Nacht“ oder Guy Maddins fiebriger Fake-Materialismus in „The Forbidden Room“. Zumindest cinephil träumen kann man davon, dass VR im Bezug auf das Kino ähnlich wirken wird wie die Fotografie auf die Malerei: zugleich als „Befreiung und Vollendung“, wie es Bazin formuliert hat – „Vollendung“ im Sinne eines perfekten Realitätsabbilds in der Virtual Reality, „Befreiung“ des Kinos genau von den Fesseln eines zumeist unhinterfragten Realismus.

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