Befreiung des Denkens

THEATERPORTRÄT In Göttingen bringt Anne Jelena Schulte das Leben Sofia Kowalewskajas auf die Bühne. Dort hatte die russische Frauenrechtlerin, Schriftstellerin und erste Mathematik-Professorin Europas promoviert

Trotz geometrischen Formen auf der Bühne wird Sofjas Leben klassisch linear erzählt Foto: Isabel Winarsch

von Jens Fischer

Wie drei Schwestern hocken sie weit weg auf einem Gut russischen Landadels. Aber von der Sehnsucht paralysiert wie ihre Kolleginnen in Tschechows Melancholiekomödien sind sie keineswegs, sondern quietschfidel. Sie träumen sich nicht nur nach Moskau, sondern raus aus Russland. Und flüchten in die Zukunft – weit weg nach Heidelberg.

Obwohl ihnen die dortige WG-Butze wie eine „preußische Besenkammer“ erscheint, platzen sie fast vor Optimismus, Neugier und Bildungshunger. Wollen endlich freigeistig forschen und aus der stetig strebenden Wissensvermehrung auch soziale, politische und Geschlechter-Emanzipation ableiten.

Wie das in Göttingen uraufgeführte Porträtdrama „Sofja“ berichtet, durften Frauen in Russland des 19. Jahrhunderts aber nicht einmal allein reisen – ohne Mannsbild als offiziellen Begleiter. So bedienen sich die drei belesenen Schwestern im Aufbruchsgeiste bei den Nihilisten, deren fesches Rebellentum ihnen wohl aus Iwan Turgenjews „Väter und Söhne“ vertraut ist.

Eine Scheinheirat wird organisiert. Schon geht ein Quartett infernale auf Europa-Tour: Dabei sind Sofja Wassiljewna Kowalewskaja, später erste Mathematik-Professorin der Welt, aktive Frauenrechtlerin und Titelgeberin des Stücks; ihre Schwester Anjuta, die auf den Barrikaden die Pariser Commune verteidigt; und aller Freundin Julija Wsewolodowna Lermontowa, die weltweit erste Frau, die in Chemie promoviert. Als Alibimann engagiert wurde Wladimir Onufrijewitsch Kowalewski: Der Paläontologe kämpft mit fossilen Belegen für die gerade entwickelte Evolutionstheorie.

Historische Biopics sind beliebte Sujets fürs große Arthouse-Ausstattungskino. Dass „Sofja“ nun mit sparsamen Stadttheatermitteln am Deutschen Theater Göttingen uraufgeführt wird, lässt sich in Analogie zu den Stadtmusikanten erklären. Die kamen nie nach Bremen – und sind heute hochgeehrte Imageträger. „Sofja war auch nie in Göttingen, ihre drei dorthin geschickten Dissertationen zur Theorie der partiellen Differentialgleichungen, Gestalt der Saturnringe und zu Abel’schen Integralen wurden in Abwesenheit summa cum laude anerkannt“, erklärt Autorin Anne Jelena Schulte. Die Julija habe ihre Promotion ebenfalls dort erworben und wurde 2003 mit einer Gedenktafel geehrt.

Ob beider Versuche, Zugang zu den naturwissenschaftlichen Instituten zu bekommen, auch etwas über die aktuelle Akademikerausbildung erzählt, dazu recherchierte Schulte unter Mathe-Studentinnen an der Göttinger Uni. „Sechs der 24 Mathe-Lehrstühle sind dort von Frauen besetzt, das wird nirgendwo anders in Deutschland erreicht“, erzählt sie. „15 Prozent der Mathe-Studenten sind weiblich, 70 Prozent von den 15 Prozent studieren auf Lehramt.“

Warum das so ist, was Mathematikerinnen derzeit an Vorurteilen erleben und was sie an ihrem Fach fasziniert? Interviewschnipsel dazu komponierte die Autorin als chorische Einschübe in Sofjas Drama. Leider sind sie nur teilweise in Privatgesprächen der Schauspielerinnen mit einigen wenigen Zuschauern zu erleben. Dabei würde gerade dieser Einbruch des Dokumentarischen dem fiktionalen Historisieren doch dramatisch Sinn verleihen. So bleibt es beim linear erzählten Biografietheater, bei dem der geschichtliche Kontext in die Dialoge geschnipselt wird.

Der Stoff serviert reichlich Vorlagen, um aus dem Fabulieren über unendliche große geome­trische Figuren auf die Befreiung des Denkens und den Weltverbesserungsfuror zu sprechen zu kommen. Aber Antje Thoms’Inszenierung fokussiert vor allem die privaten Kalamitäten und den Versuch, die Zweckheirat aufs nächste Level zu hieven. Per gierigem Kuss kippt das kumpelige Miteinander von Sofja und Wladimir ins körperliche Begehren: 1.000 Mal berührt und nun endlich Liebe gespürt. Ein Kind wird geboren. Aber das Glück ist ein kurzes. Den Willen zur Karriere und zur Familie bekommt das Paar nicht zusammen.

Hinzu gesellt sich ein ständiger Kampf gegen die Armut, da Sofja als Frau, Wladimir als Querdenker und beide aufgrund ihrer Nihilisten-Vergangenheit einem inklusionsunwilligen Wissenschaftsbetrieb begegnen. Wobei Sofja auch die Waffen einer Frau einsetzt und mit strahlelächelndem Liebreiz die mit Dialekt karikierte Parade knorriger Patriarchen des Unibetriebs zu becircen versucht, um immatrikuliert zu werden.

Immerhin darf sie Gasthörerin werden und bekommt Privatunterricht bei einem Mathe-Heros der Zeit, Karl Weierstraß, muss aber nach Schweden auswandern, um eine Professur angeboten zu bekommen. Wladimir hingegen ruiniert mit Immobilien- und Erdölgeschäften das Ehekonto – und begeht Selbstmord.

Die Faktenfülle des Stücks entnahm die Autorin den literarischen Werken der Mathematikerin und ihrer Biografen sowie überlieferten Briefen. Ein Großteil der Aufführung ist Sofja auf ihre Manuskripte fixiert und mit der Verfertigung mathematischer Gedanken beschäftigt. Christine Jung entwickelt die Figur überzeugend aus dem frech-forschen Wildfang des Beginns und vermittelt, wie die übersprudelnde Lebensenergie im eremitischen Forschen verkümmert. „Nicht nur ihr Denken, auch ihre Haut wird immer abstrakter“, analysiert der Gatte. Die dunkle Seite des Selbstbewusstseins ist ebenfalls deutlich, wenn sie sich höchst verächtlich gegenüber intellektuell weniger Begüterten äußert. Ziemlich verloren geht in der psychologischen Differenzierung der politische Anspruch Sofjas.

Inszeniert ist der Abend in filmdramaturgisch knappen, pointierten Szenen: kein Satz, kein Blick, der nicht die Sofja-Handlung vorantreibt. Alle anderen Charaktere dienen der Illustrationen der Hauptfigur und bekommen einfach zu wenig szenisches Futter, um sich selbst eine tragische Fallhöhe zu erarbeiten. So aber haben sie Zeit, in Barpianomanier das Geschehen mit erhabenen Klassik-Hit-Zitaten und kämpferischen Polithymnen zu untermalen.

Als Running Gag fragt die Amme immer wieder: „Tee?“ Die Antwort ist stets: „Nee!“ Lecker Konventionen will niemand, eine Tschechow-Komödie reicht keinem – es soll ein emanzipatorisches Lehrstück mit Herz entstehen. Was mit theaternostalgischen Mitteln prima gelingt.

Mo, 9. 1., 20 Uhr, Deutsches Theater Göttingen. Weitere Aufführungen: 19. 1., 25. 1., 28. 2.