Die Verbannung der Andersdenkenden

Kalter Krieg Mit dem Radikalenerlass wollten die Sozialdemokraten angesichts ihrer neuen Ostpolitik ihren Antikommunismus bekräftigen. Ausgerechnet Willy Brandt hat die Berufsverbote mitzuverantworten

Angst vor Rudi Dutschkes „langen Marsch durch die Institutionen“: Die CDU setzte 1972 in einer Kampagne SPD und FDP unter Druck Foto: KAS/ACDP/wikimedia commons

Ausgerechnet Willy Brandt. Unter dem Vorsitz des SPD-Kanzlers, der „mehr Demokratie wagen“ und die rebellische Jugend einbinden wollte, hat die Ministerpräsidentenkonferenz im Januar 1972 den sogenannten „Radikalenerlass“ beschlossen. Der Erlass führte faktisch zu einem Berufsverbot für Hunderte von Menschen – in der Regel Linker –, die Lehrer, Sozialarbeiter, Lokführer oder auch „nur“ Briefträger werden wollten.

Im In- und Ausland vielfach kritisiert, reicht er bis in die heutige Zeit. Mit dem Beschluss des niedersächsischen Landtages, eine Beauftragte einzusetzen, beginnt jetzt die Aufarbeitung.

Der Erlass geht davon aus, dass Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst „jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes“ einzutreten haben. Bewerber, die verfassungsfeindlichen Organisationen angehören, seien in der Regel abzulehnen. Pech für den, der auf Lehramt studiert hatte und dessen Ausbildung nun plötzlich nichts mehr wert war.

Wie aus einem Antrag von SPD und Grünen im Niedersächsischen Landtag hervorgeht, hat der Verfassungsschutz auf Basis des Erlasses bundesweit 3,5 Millionen Bewerber auf ihre Zuverlässigkeit hin durchleuchtet. Der Geheimdienst fertigte 35.000 Dossiers über Andersdenkende an. Die Behörden setzten 11.000 Berufsverbotsverfahren in Gang. 2.200 Beamte und Angestellte wurden mit Disziplinarverfahren überzogen, 265 entlassen. 1.250 Bewerber wurden abgelehnt.

„Systemkritische und missliebige Organisationen und Personen wurden an den Rand der Legalität gedrängt“, heißt es in dem Antrag von SPD und Grünen, „die Ausübung von Grundrechten wie der Meinungsfreiheit wurde behindert, bedroht und bestraft.“ Bis weit in die 80er-Jahre hinein habe der Erlass das politische Klima vergiftet. Statt Zivilcourage und Engagement zu fördern, habe er Duckmäusertum erzeugt.

Bereits unmittelbar nach dem Krieg hatte es eine ähnliche Regelung gegeben, den „Adenauer-Erlass“, der die Mitgliedschaft in gewissen Organisationen als „Bestreben gegen die freiheitlich-demokratische Staatsordnung“ wertete. Darunter waren rechtsradikale Splitterparteien, aber auch linksradikale Organisationen wie die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) und die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN). Nach dem Abbruch der Entnazifizierung rückten gleichzeitig die ehemaligen Funktionäre der Nazi-Diktatur wieder in den Staatsapparat ein. Der Antitotalitarismus richtete sich vor dem Hintergrund des Kalten Krieges vornehmlich gegen den Kommunismus.

Der Beschluss zum Radikalenerlass fiel in die Zeit der 68er-Bewegung und der Ostverträge. Der Studentenführer Rudi Dutschke hatte den „Marsch durch die Institutionen“ und damit ein Programm der Unterwanderung durch radikale Linke angekündigt. Gleichzeitig stand die sozialliberale Regierung offenkundig für ihre Annäherung an die Kommunisten des Ostblocks unter Rechtfertigungsdruck.

Die Kritik ließ nicht auf sich warten, etwa von der französischen Schwesterpartei der SPD. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) strengte ein förmliches Verfahren gegen die Bundesrepublik an. Brandt selbst betrachtete seine Zustimmung später als großen Fehler. Sein Nachfolger Helmut Schmidt (SPD) sagte, es sei mit Kanonen auf Spatzen geschossen worden.

Der Geheimdienst fertigte 35.000 Dossiers über Andersdenkende an –in der Regel Linke

Einmal beschlossen, musste der Radikalenerlass von den einzelnen Bundesländern in Recht gegossen worden. Umgekehrt hob das Saarland 1985 als erstes Bundesland den Erlass förmlich auf. Schleswig-Holstein folgte 1988, Niedersachsen folgte 1990, Bremen 2012.

1995 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Fall einer Lehrerin, dass sie zu Unrecht wegen ihrer DKP-Mitgliedschaft entlassen worden sei. Er verurteilte das Land Niedersachsen zur Zahlung von Schadensersatz.

Nachdem sich der niedersächsische Landtag jetzt mit dem Beschluss von Mitte Dezember bei den vom Berufsverbot Betroffenen entschuldigt hat, hoffen diese jetzt auf ihre vollständige Rehabilitierung. Gernot Knödler