Spaziergang am Kanal, gezapftes Bier im „Anno 64“ und Rodeln im Görli
: Meine Nasenhaare sind Dolche

Ausgehn & Rumstehn

von Kirsten Riesselmann

Ich hatte keine Vorsätze fürs neue Jahr. Nur einen vielleicht: Keinen Fußbreit der Jahresanfangsdepression! Deswegen dachte ich: Guter Plan, gleich am ersten Wochenende des Jahres ausgehen statt grübeln, zweifeln und plattgematscht werden von allem dringend Änderungsbedürftigen im eigenen Leben. Rechnung ohne den Wirt gemacht, würde ich sagen.

Aber zunächst: der liebe, homöopathische Einstiegsdonnerstag. Spaziergang mit Freundin in Eiseskälte, kein Mensch am Kanal, herrlich, die Nasenhaare hart wie Dolche, Einkehr im „Anno 64“ auf der Gneisenaustraße, Kneipenkneipe, der DJ im paisleygemusterten Hemd spielt Jefferson Airplane, die Tresenkraft meint auf die Frage, ob denn dieses Fassbier – König Ludwig hieß es – überhaupt schmecke, schulterzuckend: „Kann man trinken.“ Konnte man.

Am Freitag große Pläne. Kookoo sollte sein. Zu der sich monatlich ereignenden Club-Kunst-Reihe im Ohm will ich schon hin, seit sie läuft. Was seit deutlich mehr als fünf Jahren der Fall ist. Was soll ich sagen. Kinder bekommen. Und so. Eine Viertelstunde, bevor ich aus dem Haus will, überfallen mich hinterrücks Schwindel und Übelkeit. Ein bisschen habe ich „Trauriger Tiger toastet Tomaten“ im Verdacht, das Abc-Buch von Nadia Budde, das ich den Kindern zum Einschlafen vorgelesen hatte. Gleich unter A hat Ameise Anton Appetit auf Anis – und allein der Name des eigentlich so heilsamen Doldenblütlers ließ unerwartet weltlagetechnischen Pessimismus über mich hinwegrollen. In der Folge fand es mein Körper unangemessen, gleich Anfang Januar Spaß zu haben, und bat mich zur Kloschüssel.

Am Samstag lediglich ein kurzes Outing am Nachmittag: Die Kinder wollten zur „Rapauke“-Konzertreihe gebracht sein. Dort Wiedersehen mit Johnny, der mir in der 6. Klasse im Baden-Württembergischen als Sohn des katholischen Stadtkantors anhand kopierter Musikkassetten Metal nahegebracht hat. Ich verdanke ihm viel. Heute spielt er Kontrabass beim Rundfunk-Sinfonieorchester, ist aber ein so gewinnender Mensch wie eh und je. Wir sind jetzt fürs nächste Iron-Maiden-Konzert verabredet. Mit 40 darf man doch so langsam mal Konzerte besuchen, die keinen anderen Zweck erfüllen, als der eigenen Jugend hinterherzuweinen.

Am Abend trat der Körper erneut in Streik, ich stand einfach nur stumpf und unwohl auf dem Balkon, der Schnee fiel, und der neue Nachbar gegenüber kam nackt aus dem Badezimmer, ohne vorher den Vorhang zugezogen zu haben. Mehr war nicht.

Am Sonntag reichte der Schnee zum Schlittenfahren. Was man im Sommer durch den Görli erleiden muss, wird einem im Winter durch den Hang direkt vor der Haustür vergolten. Eine Mutter berodelte ihn, nur mit leichter Jogginghose bekleidet, ohne je die Zigarette aus der Hand zu legen. Ein Wunderwerk des Multitaskings: Mit den Füßen lenkte sie den Schlitten, mit der einen Hand hielt sie ihre Kinder fest, mit der anderen zog sie lässig an der Fluppe. Da staunten wir, die wir da standen in unseren Mützen von Social-Responsibility-bewussten Outdoor-Herstellern und unseren Kindern in Demeter-Wolle-Seide.

Am Abend landete ich bei einem verzagten Kiezspaziergang noch auf ein Astra (was soll noch kommen, wenn einem sowieso schon schlecht ist) im Lido, wo gerade der Live-Teil von „Bowie Tribute 2017“ zu Ende gegangen war.. Zu „Under Pressure“ vom DJ tanzten ein paar Versprengte, zwei Männer trugen sogar Pailletten, ansonsten hatte man wohl nicht allzu viel verpasst. Auf dem Rückweg rang mir ein Zettel im Fenster der Bar Sofia das erste Lächeln des Jahres ab: Am 4. Februar findet dort eine „Große Kloeinweihungssause“ statt, Showkonzept und Moderation gehen aufs Konto eines gewissen „GEILO“. Ich hoffe, bis dahin ist die Jahresanfangsdepression überwunden.