Debatte: Schauspiel ohne Autor (1): Mehr als die Summe der Teile

Romanadaptionen, Performance-Projekte: Das aktuelle Programm der Sprechtheater verzichtet oft auf AutorInnen. Künstlerisch ist das ein Verlust.

Kristo Šagors Stücke – hier „Patricks Trick“ in Bremen – werden noch recht häufig gespielt. Foto: Jörg Landsberg (Theater Bremen)

Vor ein paar Jahren habe ich mal einen Text über ein ähnliches Thema geschrieben. Damals ging es um Werktreue. Was für ein Luxusproblem, gemessen an der aktuellen Entwicklung, komplett auf Dramatiker und ihre Texte zu verzichten. Roman­adaptionen, Spezialisten des Alltags, Ensembleprojekte – die Liste der Alternativen ist lang.

Als ich begann, auch Regie zu führen, wunderte sich ein älterer Kollege von mir warnend, seines Zeichens schon vor Jahren aus der Dramaturgie in eine Metaorganisation abgewandert: „Eine privilegiertere Position als die des Autors gibt es im Theater nicht. Willst du dich wirklich täglich mit den Neurosen von Schauspielern herumschlagen müssen?“ Ja, wollte ich.

Neben der Spitze gegen die Schauspielkollegen enthielt seine Polemik eine Wahrheit, die ich damals noch nicht überblickte: Aus Schauspielern werden manchmal Regisseure und aus Regisseuren manchmal Autoren, und wenn man sich mit ihnen darüber unterhält, beschreiben sie diese Veränderung oft als Verbesserung, mehr Au­tarkie, mehr konzeptuelles Denken. Die entgegengesetzte Entwicklung ist seltener: der Einsamkeit am Schreibtisch die Kommunikationsintensität der Probe entgegenhalten.

Erst vor einem Jahr blaffte mich bei einer Vertragsverhandlung ein Betriebsdirektor – eher freundlich als unfreundlich – an, die allerneuste Mode sei wohl, dass Regisseure neuerdings immer Tantiemen wollten, was das denn solle.

Ich war zu perplex, um entgegenzuhalten: Weil es etwas anderes ist, einen dramatischen Text zu inszenieren als eine Romanadaption, für die man selbst die Fassung macht.

Bei „Penthesilea“ von Kleist zu kürzen und gegebenenfalls Repliken anders aufzuteilen, ist eine überschaubarere Arbeit, als sich bei einem Roman zu überlegen, welche Episoden sich wie verdichten lassen, oder ganz schlicht: die Sätze neu zu formulieren, die da gesagt werden sollen.

Der dramatische Text bietet Situationen, sein Autor erfindet Figuren, ihre Beweggründe, Geheimnisse, Zerrissenheiten. Im besten Fall Material, das Regie und Spieler dazu reizt, über sich hinauszugehen. Als adaptierender Autor ist man eher Übersetzer, und dem Beruf wird man besser gerecht, wenn man ihn physisch auffasst. Statt „Ich habe den Text übersetzt“ besser „Ich habe ihn übergesetzt“, von X nach Y, von der einen Sprache in die andere. Oder im Fall der Adaption: vom einen Medium in das andere.

Die dabei entstehende Reibung kann ein Gewinn sein, und selbst die gleichzeitig entstehenden Verluste können Räume eröffnen, die zu füllen Regie und Spieler auf eine Weise herausfordert, die zu Qualität führt. Gesetzt den Fall, sie lesen auch den Originaltext und können einschätzen, was der Bearbeiter da überhaupt gemacht hat.

Ja, es wäre ganz wunderbar, wenn all die Romanadaptionen die Spielpläne hauptsächlich deshalb bevölkern würden, weil alle Beteiligten sich so sehr für die Finessen der jeweiligen Medien interessieren und Diskurs halten über Differenzen und Interferenzen. Aber die Wahrheit ist eine andere: Romanadaptionen werden wegen des bekannten Titels genommen, verbunden mit der Annahme, der ziehe Publikum – weil er gerade erst frisch durch die Feuilletons der Republik gereicht wurde oder weil er ein kanonischer Klassiker ist. Und dann kann man das Ganze trotzdem „Uraufführung“ nennen, ganz egal, die wievielte Bühnenfassung dieses Romans es ist, und das Theater hat das beste aus beiden Welten: einen sicheren Titel und ganz heiße Scheiße. Noch besser: die sogenannte „Uraufführung“ eines Textes, der gerade Abistoff ist.

Aber selbst für die leidigen Adaptionen werden oft nicht mal Autoren verdingt. Das macht der Dramaturg so nebenbei und verdient sich was dazu. Im Extremfall ist sein Vertrag so gut, dass seine Fassung gespielt werden muss, egal, wie schlecht sie ist. Gegebenenfalls führt das dann dazu, dass alle heimlich ihre eigene Fassung machen und trotzdem jedes Mal der Mittler bezahlt wird.

Den Autor wegzulassen, bedeutet eben auch, ein Auftragshonorar einzusparen. Das ist ganz vergleichbar damit, wenn ein Ausstatter neben dem Bühnen- auch das Kostümbild entwirft. Auch so lässt sich Geld sparen. Im Einzelfall mag das konzeptionell von Nutzen sein, wenn zwei Gewerke in einer Hand liegen. Im Allgemeinen ist es von Nachteil.

Denn Theater ist kollektive Kunst, und je mehr Expertise zusammenfindet, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass dabei etwas Relevantes und Berührendes entstehen kann. Verschiedene Menschen können verschiedene Sachen. Also möge jeder und jede das Seinige und Ihrige beitragen, damit mehr wirklich mehr ergibt. Im Werbesprech: Nur Friseure können, was Friseure können. Das heißt im Umkehrschluss: Wenn ein Dramaturg oder Regisseur wirklich schreiben kann, ist er wirklich ein Autor.

Sterben die DramatikerInnen aus? Schwer zu sagen. Mindestens scheinen sie verzichtbarer geworden: Das Stadttheater Osnabrück, das Stadttheater Bremerhaven, das Staatstheater Oldenburg, das Theater Bremen und selbstverständlich das Deutsche Schauspielhaus haben in Norddeutschland derzeit je eine „Unterwerfung“, basierend auf Michel Houellebecqs Roman, im Spielplan. Und alle jeweils in einer von der hauseigenen Dramaturgie gebauten Fassung. Nun ist es, erfolgreiche Gegenwartsromane auf die Bühne zu bringen, seit dem 19. Jahrhundert gelebte Theaterpraxis. Der Trend, dafür auf die Bordmittel zu setzen, ist hingegen neu.

Er sorgt für eine bemerkenswerte Vielfalt, verschärft aber auch die Situation der DramatikerInnen, also der AutorInnen von Theaterstücken. Die mies ist: Bis zur Jahrhundertwende rangierten Gegenwartsdramatiker in der Bühnenvereinsstatistik gleichauf mit Klassikern in den Top 20 der meistgespielten Stücke. Aktuell so gut wie nie. Klar, wenn die Kultusministerkonferenz unter Vorsitz der Bremer Bildungssenatorin Claudia Bogedan (SPD) gerade erst die deutsche Theaterlandschaft wegen ihrer „weltweit einmaligen Vielfalt künstlerischer Ausdrucksformen“ für die internationale Unesco-Liste des immateriellen Kulturerbes nominiert, bedeutet das zum Glück kein Veränderungsverbot. Theater braucht Wandel. Nur ob dabei die für sie einst so prägende Figur der Dramatikerin oder des Dramatikers in Bedrängnis geraten muss und verzichtbar werden sollte, darüber lohnt sich nachzudenken, und vielleicht sogar zu streiten. Das tun in unserer Debatten­serie Theaterleute aus ganz Norddeutschland.

Ich kann nachvollziehen, dass Regisseure und vor allem Schauspieler sich danach sehnen, an der Entwicklung dessen, was da gesprochen wird, anders mitzuwirken als nur interpretierend. Ein Modell, das Klaus Schumacher vor Jahren am Theater Bremen an mich herangetragen hat, hat für mich so gut funktioniert, dass ich es danach noch mit vier anderen Regisseurinnen und Regisseuren praktiziert habe:

Man verabredet sich auf ein Thema, verbringt ein, zwei Wochen miteinander, in denen die Schauspieler Material improvisieren. Improvisation und Diskussion wechseln einander immer wieder ab. Dann zieht der Autor sich zurück und schreibt, basierend auf dem Material, was er schreiben will. Und die Regie setzt es dann mit allen Mitteln des Regietheaters um.

Vertrauen in das Können des anderen und Respekt vor seiner Autarkie ermöglichen dann eine andere Nähe zwischen Spielern und Text als beim herkömmlichen Probenprozess. Klar, der Ausgangspunkt für einen Theaterabend muss gar kein Text sein. Die scharfe Fragestellung, die inspirierende Beobachtung kann auch aus der Dramaturgie kommen, aus dem Kollektiv oder aus dem Kantinengespräch vier Uhr morgens. Aber wie viele ambitionierte Ensembleproduktionen habe ich schon gesehen, denen ich dringend einen Autor gewünscht hätte. Denn das ist ein starkes Argument für den Autor: Poesie. Poetische Verdichtung, formale Kraft.

Ein guter Text hat Rhythmus, spielt mit Wiederholungen, Variationen. Er wartet mit Wendungen und Überraschungen auf, lädt ein und funkelt zugleich unnahbar. Wenn Regie diese Musikalität erkennt und benutzt, ihr vertraut und sie durch eigene Erfindungen kontrapunktiert, entsteht im besten Fall ein Schwebezustand.

Und das stärkste Argument? Zeit. Regisseure, Dramaturgen, Schauspieler sind in den Probenplan eingespannt, und im Theateralltag spielen oft Sachzwänge eine Rolle. Der Autor kann sich Zeit nehmen. Und dass er das kann, macht es soviel wahrscheinlicher, dass Musikalität und Poesie entstehen. Zwischen der ersten Idee und der ersten Zeile können Jahre vergehen und zwischen der ersten Zeile und der letzten gleich nochmal. Das muss nicht so sein, aber allein das Wissen, es ist möglich, führt zu anderen kreativen Prozessen, als wenn man eingetaktet ist in Zeitfenster. Deadlines helfen als Motivationstritt in den Arsch, Inspiration jedoch braucht Zeit.

In einer besseren Welt hätte jedes Theater, so selbstverständlich wie es ein Ensemble und Hausregisseure hat, auch Hausautoren. Diese hätten dank ihres sicheren Gehalts und bei allem Wissen um das Medium Theater dennoch genug Abstand zum alltäglichen Betrieb, um ganz eigen zu bleiben, in der Sprache und Form ihrer Texte – das wäre gut.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

40, geboren in Stadtoldendorf, aufgewachsen in Lübeck-Buntekuh, ist Regisseur und einer der vielseitigsten Dramatiker: Sein Œuvre umfasst Kinder- und Jugendstücke („Du Hitler“, „Patricks Trick“) und Beziehungsdramen („Adam Komma Eva“) ebenso wie Romanadaptionen („Die Jüdin von Toledo“, „Die Judenbuche“) und Performances: So wohnte er für das Projekt „Neue Heimat. Wohnen unter Tage“ von Oktober 2008 an fünf Monate auf der Bühne des Bochumer Schauspielhauses.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.