Große Verzweiflung

HAU Warum ist es so schwer, die Welt zu verbessern? Mit dieser Frage kämpfen die Performer auf dem Festival „Utopische Realitäten – 100 Jahre Gegenwart mit Alexandra Kollontai“ zur Feier der Oktoberrevolution 1917

Schwer revolutionäre Szene aus „Loderndes Leuchten“ Foto: Dorothea Tuch

von Tom Mustroph

Der revolutionäre Funke glimmt, wenn überhaupt noch, am ehesten in Lateinamerika. Das belegen Netzwerke besetzter Fabriken, die Zapatisten und auch der zähe Kampf der Mapuche. Weil anderswo die Zeichen einer gelebten Praxis jenseits der Denk- und Begehrensschemata des Konsumkapitalismus schwinden, vergab HAU-Intendantin Annemie Vanackere konsequenterweise den Regieauftrag für eines der Kernprojekte ihres Festivals, das an die Oktoberrevolution in Russland vor 100 Jahren erinnert, an einen argentinischen Regisseur.

Und Mariano Pensotti kreierte mit „Loderndes Leuchten in den Wäldern der Nacht“ ein faszinierendes Revolutionspanorama. Er verknüpft darin die Lebensgeschichte einer Dozentin für Revolutionsgeschichte aus Buenos Aires mit der Biografie einer nach Deutschland zurückkehrenden Ex-Guerrillera aus Kolumbien. Hinzu kommt die Geschichte eines Nachfahren nach Südamerika ausgewanderter russischer Adliger, der als Callboy arbeitet.

Zusätzlich zu diesen schrägen Biografien und ihrer Verknüpfung à la Thomas Pynchon leistet sich Pensotti auch noch eine charmante formalistische Spielerei, in der verschiedene Medien ineinander verschachtelt werden. Das Figurenset um die Revolutionshistorikerin Estella verfolgt die Geschichte der Guerrilla-Veteranin als Bühnenstück, in das Fragmente eines Musicals integriert sind. Die deutsche Familie der Revolutionsrückkehrerin wiederum sieht die sexuellen Eskapaden einer feministischen TV-Moderatorin aus Buenos Aires mit dem im Sexgeschäft tätigen Nachfahren des russischen Adels als Film. Liebhaber der Migrationsgeschichte von Ideen und Kulten können sich zudem an einer Prozessionsfigur von Alexandra Kollontai ergötzen, die im Film durch den argentinischen Busch getragen wird.

Alexandra Kollontai, Oktoberrevolutionärin der ersten Stunde, Ministerin in Lenins Regierung und Aktivistin für Frauen­rechte und freie Liebe, taucht bereits als Hauptstudienobjekt Estellas auf und ist auch Leitfigur des Festivals. Die Geschichte der russischen Emigration nach Lateinamerika reichert Pensotti um die Episode einer feministischen Kommune an, die von einer Tochter Kollontais gegründet worden sein soll.

Es sind aber nicht nur schrille Elemente wie diese, die an Pensottis neuer Arbeit begeistern. Es besticht vor allem die geradezu selbstquälerische Lust, mit der das fünfköpfige Performerteam die Verzweiflung darüber ausagiert, dass ihre Figuren, sie selbst und große Teile ihres Publikums trotz der jeweiligen Einsicht in die Verkehrtheit der Welt eben nicht revolutionär genug für eine Veränderung dieser Verhältnisse sind.

Die Verzweiflung an der eigenen Untätigkeit, sie ist ja auch auf hiesigen Bühnen bekannt und wird nicht selten durch die blutarme Ironie performender Mittelstandskinder bagatellisiert. Pensotti und seine Crew kreieren dagegen noch eine Fallhöhe zwischen idealistischem Anspruch und banalem Durchwurstelalltag.

In der Welt der Auftragskunst ist „Loderndes Leuchten in den Wäldern der Nacht“ ein wahrer Glücksfall. Im Verhältnis dazu hat es das weitere Programm des Festivals eher schwer. Die Moskauer Kuratorin Marina Davydova und ihre Bühnenbildnerin Vera Martynov liefern mit ihrem Performanceparcours „Eternal Russia“ immerhin ein hübsches Tischfeuerwerk ab.

Es sind aber nicht nur die schrillen Elemente, die an Pensottis Arbeit begeistern

Ab in den Stagnationsraum

Sie lassen in einem palastähnlichen Ambiente das Geschirr auf einer vorrevolutionären Tafel vibrieren und laden in weiteren Räumen zu Blicken auf utopische Ausbrüche ein, einer davon ist einem Freie-Liebe-Befreiungsschlag à la Kollontai gewidmet. Die Besucher aber werden immer wieder in einen Stagnationsraum zurückgeführt, der mal vom Zaren, dann von Stalin und schließlich von Putin geprägt ist. Da darf man dann selbst entscheiden, ob man zur fatalistischen Deutung neigt und Russland als ewiges Reich der Leibeigenschaft betrachtet oder sich lieber von den jeweiligen avantgardistischen Ausbrüchen faszinieren lässt.

Ärgerlich hingegen ist die Simulation von politischen Diskussionsabenden, die Künstler Jonas Staal in – einem immerhin reizvollen Ambiente mit untergehenden schwarzen Sternen – inszeniert. Staal lässt einzelne politische Aktivisten auftreten und von neuen Bündnisformen schwafeln.

Im zweiten Teil des Festivals verdient vor allem Vlatka Horvats „Minor Planets“ (ab Freitag, HAU 2) Aufmerksamkeit. Horvat erkundet ausgehend von der eigenen biografischen Erfahrung des Untergangs Jugoslawiens Überlebensstrategien in zerfallenden Gesellschaften. Das wäre nach Pensottis wilder Verzweiflungsorgie und Davydovas tiefschwarzem Fatalismus-Exkurs die postheroisch-pragmatische Komponente dieses Festivals.