Können wir ein diverses Ganzes werden?
: Die identitäre Spaltung

Knapp überm Boulevard

von Isolde Charim

Mark Lilla hat linker Identitätspolitik eine (Teil-)schuld an Trumps Sieg gegeben. Seit seinem Kommentar in der New York Times gerät diese auf Gruppenidentität basierende Politik zunehmend ins schiefe Licht. Auch in der tazkann man viel Kritik daran lesen.

Halten wir fest: Es gibt Exzesse. Exzesse der „political correctness“, Exzesse der Identitätspolitik, Exzesse der Sensibilisierung und der Empfindlichkeiten. Man braucht diese gar nicht aufzählen. Nicht nur weil die Rechten eben dies weidlich betreiben. Sondern weil man gar nicht die Rechten dazu braucht. Die Linken besorgen das ganz alleine. Ja, es gibt im Gefolge der Identitätspolitik eine Art identitäre Verengung, eine Versteifung, die diese in ihr Gegenteil kippen lässt. Dann haben wir statt Antirassismus und Minderheitenschutz Tugendterror und Gruppenegoismen.

Ja, es gibt all das. Aber gerade weil es das gibt, gerade weil da etwas aus dem Ruder zu laufen droht, gilt es, jetzt nicht das Kind mit dem Bade auszuschütten.

Die zentrale Frage ist doch: Haben wir es bei der Identitätspolitik mit einer Pathologisierung der Linken zu tun? Ist das nur eine Fehlentwicklung? Sind das Ersatzschauplätze, Schlachtfelder für eine „Ersatzpolitik“ (Lilla)? Dazu muss man sich anschauen, was Identitätspolitik ist und wie sie zu dem wurde, was sie heute ist.

Diskriminierung ist die Form, die Ungleichheit in heterogenen Gesellschaften annimmt, so Pierre Rosanvallon. Diskriminierung, also der Mangel an Anerkennung, hat zwei Strategien. Zum einen verweigert sie dem Einzelnen seine Besonderheit und reduziert ihn auf seine Gruppenzugehörigkeit (ob ethnisch, geschlechtlich oder religiös). Zum anderen aber verweigert sie dem Einzelnen, Teil der Allgemeinheit, Teil der Gesellschaft der Ähnlichen zu sein. Weil die Diskriminierung eine doppelte ist, ist auch der Kampf dagegen ein doppelter. Da sind zum einen die heute vielgescholtenen Gruppen mit ihren Gruppenidentitäten.

Man muss sich anschauen, was Identitätspolitik ist und wie sie zu dem wurde, was sie heute ist

Bevor diese zu markanten Gruppenegoismen führen, sind sie einmal Antworten auf eine reale Unterdrückung als Gruppe. Zum anderen aber begegnet man der Diskriminierung mit einer Politik in der ersten Person. Man tritt als der, der man ist, in die öffentliche Arena. Anders gesagt, Identitätspolitik hat den alten Unterschied zwischen privater und öffentlicher Person eingezogen. Man vergesellschaftet sich als private Person und eben nicht als abstrakter Citoyen. Man vergesellschaftet sich also mit seinen Besonderheiten, mit seinen Unterschieden und nicht mit dem, was wir alle teilen. Denn dieses Gemeinsame bedeutete, von unseren Unterschieden abzusehen.

Das war nicht immer so. Frühformen linker Identitätspolitik, etwa Bürgerrechtsbewegungen in den 1960er Jahren, waren der Versuch, zum anerkannten ­Citoyen zu werden, sich in die abstrakte öffentliche Person einzuschreiben. Anders gesagt, diese Abstraktion so umzuformulieren, dass sie etwa auch die Frauen oder die Schwulen umfasst. Es war der Versuch, Teil dieser Abstraktion zu werden. Das war der Kampf um gleiche Rechte, um den Citoyenstatus. Erst dort, wo diese Auseinandersetzungen nichtfunktioniert haben, wo sie an Grenzen ge­stoßen sind, ist jener Separatismus, jene Abgrenzung, jene Gettoisierung entstanden, die heute so viel gescholten wird. Jene Abschottung, die zu den erwähnten Exzessen führt. Hierher gehört auch die schwerwiegendste Folge, die Lilla namhaft gemacht hat: der Narzissmus, der damit einherging. Dieser ist in der Tat ein gesellschaftliches und politisches Problem.

Statt linke Identitätspolitik aber gänzlich zu verteufeln, wie überschießende Kommentare nach Lilla vermehrt vorschlagen, gilt es jetzt, Fragen zu stellen: Ist der, zu Recht, inkriminierte Narzissmus, ist die identitäre Spaltung der Gesellschaft nun Ursache oder Folge der Identitätspolitik?

Und: Gibt es einen Umgang mit Diversität, der zwischen der Skylla der Diskriminierung und der Charybdis von Narzissmus und Gruppenegoismus, also zwischen abstraktem Universalismus und identitärer Abschottung hindurchsegelt? Kurzum – können wir ein diverses Ganzes werden?

Isolde Charim ist freie Publizistin und lebt in Wien