Im Banne des Stachelrochens

CTM Hoher Besuch aus Detroit: Sherard Ingram alias DJ Stingray kommt nach Deutschland

DJ Stingray Foto: Marie Staggat

Techno war stets mehr als nur ein weiterer hipper Musikstil. Besonders in seinen Anfängen vor 20 Jahren forderte er die dominierenden musikalischen Logiken, aber auch das menschlichen Nervensystem heraus: Mit ihm ließ sich nachfühlen, wie es ist, eine Maschine zu sein. Eine Maschine mit Gefühlen. Und die sind ja bekanntlich längst und heute mehr denn je von ersteren beeinflusst.

Es waren vor allem Künstler aus der US-Industriemetropole Detroit wie Robert Hood und Drexciya, die Techno zudem politisch definierten. Als Reaktion auf den sozialökonomischen Verfall ihrer Heimatstadt in den 90er Jahren, als Nebenprodukt des Kampfes für schwarze und geschlechtliche Gleichberechtigung, aber auch als Revolte gegen die traditionellen Narrative der Kulturgeschichte. Viele ­VertreterInnen wollten die Vergangenheit zugunsten einer besseren Zukunft umschreiben. Ihre Ideen: kulturelle Dislokation und Entfremdung durch Technik. Beides ist heute Alltag. Ob die digitale Kommunikation mit ihrem Potenzial zur Überwindung von Status, Geschlechter- und Staatsgrenzen oder die zigtausenden alternativ-ökonomischen Undergroundlabels als stets unterschätzte Vorzeichen einer faireren, postkapitalistischen Wirtschaft.

In einer Welt, in der sich viele Menschen wieder nach einer kleinen Welt mit Zäunen und Zöllen sehnen, ist es höchste Zeit, dass sich Techno repolitisiert und zu seinen futuristischen Wurzeln zurückkehrt. Da kommt ein Künstler wie Sherard Ingram alias DJ Stingray, der in den späten 1990er Jahren als drittes Mitglied von Drexicya als Live-DJ tourte, sehr gelegen. „Als Künstler habe ich eine soziale Verantwortung und werde mein Bestes geben, marginalisierte Gruppen und Individuen zu unterstützen und zu helfen“, sagt der Mittvierziger.

In vielen Tracks hallen immer noch die Geister von Detroits Verfallsgeschichte nach, aber längst auch die neoliberale Gegenwart, in der ökonomische Sicherheit durch das Prekariat und Solidarität durch individuelle Verantwortung ersetzt wurde. Neben dem Anspruch, die eigene Welt nicht aus den Augen zu verlieren, bleibt Ingram auch der Tradition der Maskierung treu. Bei Gigs oder Interviews trägt der Mittvierziger immer eine schwarze Sturmhaube. Die sei heute zu Zeiten von „Suchmaschinen und Social Media“ nicht mehr so wirksam, aber immer noch Teil der Gesamtästhetik: „Ich versuche meine Tracks so bedrohlich klingen zu lassen wie die Balaklava aussieht.“

Hinter den Titeln seiner inzwischen über 30 Veröffentlichungen verbergen sich oft eigenwillige Namen wie „Misinformation Campaign“ oder „Psyops for Dummies“, seine jüngste EP, die 2016 erschien. „Meine Inspiration ist Wissenschaft als Werkzeug für soziale Analysen und gesellschaftlichen Fortschritt.“ Das sei ein Versuch, HörerInnen über die Musik hinaus zum Denken anzuregen. Was ihm zufolge immer schwieriger wird aufgrund des Faktors Zeit. Es sei trotz der vielen Möglichkeiten noch nie so teuer und zeitintensiv gewesen, eigene Musik zu veröffentlichen. Auf seinem Label Micron Audio Detroit fördert Ingram deshalb junge Talente.

Dass er sowohl von R&B und klassischem HipHop, aber auch von aktuellen Stilen wie Trap und Grime, manchmal auch Metal inspiriert ist, zeigt, wie sehr er dem Credo des Ursprungsmythos treu geblieben ist. Techno ernährt sich seit jeher vom „Future Shock“, der Überraschung beim Hören eines neuen Sounds, bei dem die etablierte Wahrnehmung aus den Fugen gerät – und zumindest für kurze Zeit eine mögliche, noch unbeschriebene Zukunft aufblitzt. Auch eine Form, das Private politisch zu machen.

Philipp Rhensius

DJ Stingray, live, CTM, Berghain, Berlin, 2. Februar; Robert Johnson, Offenbach, 4. Februar