BERGAUF Es entstand nach einer Hungersnot und half den Frauen, sich zu emanzipieren. Unser Autor fährt täglich 40 Kilometer damit. Er weiß, warum nur das Fahrrad uns befreien kann
: Lass sie doch hupen

1817

Vom Müggelsee bis Kreuzberg Andreas Rüttenauer

Aufsteigen, anrollen. Die ersten Meter. Die täglichen 20 Kilometer Arbeitsweg beginnen mit einer Entscheidung. Hintenrum raus aus Friedrichshagen im Südosten Berlins, wo es sich ganz schön leben lässt, am größten See der Stadt. Da gilt es über einen Bürgersteig zu fahren, weil die Fahrbahn gesperrt ist.

Oder vorne herum über den eigentlich noch recht neuen Radweg, der aber nie geräumt wird, sodass man das Rad über das Laub des vergangenen Herbstes balancieren muss. Außerdem kann einen eine Ampel mehr aufhalten als auf der hinteren Route. Und dann ist da die Dame mit den Stöcken, die jeden Morgen brav nordicwalkt und dafür so viel Platz braucht, dass man nicht recht vorbeikommt.

Radlrambos! Raus mit ihnen aus den Städten! Von 1870 bis 1895 herrschte etwa in Köln absolutes Fahrverbot

Beim wilden Hopfen, der am hintenrum führenden Weg wächst, könnte man an Bier denken, an den letzten Rausch und an den Blödsinn, den man danach geträumt hat. Und daran natürlich, dass es am Trinken liegen muss, dass einem nicht ganz wohl war in der Früh.

Bei der hinteren Variante steht eher die Frage im Mittelpunkt, wie man über die Kreuzung kommt und ob einen eine Streife aufhält, wenn man über die noch rote Ampel fährt, was man nur getan hat, weil klar war, dass sie eh gleich umspringen wird auf Grün, was die Kontrollettis natürlich nicht interessiert. „Und morgen steht wieder etwas von einem toten Radler in der Zeitung!“

Jaja. Alles schon passiert. Und teuer war es. Vielleicht doch lieber an den Rausch denken oder gleich an das ganz große Ganze. Die Gedanken des Radlers sollen ja besonders frei sein. Smartphone checken während der Fahrt, das gibt es nicht. Und wer telefoniert schon, während er strampelt? Jeder Meter mit dem Rad ist eine digitale ­Minidiät.

Das erste Fahrrad der Welt hat seine Jungfernfahrt. Der Erfinder Karl Drais persönlich lenkt es eine etwa sieben Kilometer lange Strecke von Mannheim Richtung Schwetzingen und zurück. Die Laufmaschine aus Holz muss mit den Füßen angeschoben werden – und bringt dann bis zu 15 km/h auf die Straße. Einen Laufradboom gibt es allerdings nicht. Die Draisine ist teuer und deshalb nur ein Spielzeug der Reichen.

Die Stadt der Zukunft gehört dem Rad

Wenn da nur nicht dieser Verkehr wäre! Manch ein Auto schießt aus einer Einfahrt. Der Fahrer kann den Radler nicht gesehen haben. Und das Gestinke an der Kreuzung. Hat nicht mal eine Freundin gesagt – die Luft war besonders dreckig an diesem Tag –, dass sie nie und nimmer mit dem Rad fahren würde bei diesem Smog, und ist ins Auto eingestiegen, blöde Kuh, die sie war?

Ist der Radfahrer ein besserer Mensch? Die Stadt der Zukunft ist jedenfalls eine Fahrradstadt.

Das Rad wurde zum sozialen Hoffnungsträger. Endlich ein Fahrzeug für den Arbeiter. Und Frauen fuhren auch!

Die Megacity hat nur radelnd eine Zukunft. „Lob des Fahrrads“ heißt ein Büchlein des französischen Sozialwissenschaftlers Marc Augé, in dem er eine Utopie entwickelt. Er träumt von einem Paris ohne private Autos. Straßenbahnen, Busse, Taxis sind erlaubt und zu bestimmten Zeiten Liefer-Lkws. Weil keiner mehr einen Parkplatz braucht, ist jede Menge Platz für Radler. Die Fortbewegung in der Stadt wird zum Erlebnis. Das Rad wird zum Freund. Und die Gesellschaft wird sozialer. Man wird sich unterhalten, wenn man das Rad anschließt oder sich an einer Leihfarradstation bedient. „Schwingt euch auf die Räder, um das Leben zu verändern! Das Radfahren ist ein Humanismus“, schreibt Augé.

Arschloch! Rindvieh! Schau doch! Warum man sich eigentlich immer noch aufregt, ist ein Rätsel. Immer dasselbe an dieser Kreuzung in Köpenick, jener Kleinstadt am Rande Berlins, wo, seit ein Hauptmann die Stadtkasse geklaut hat, nicht mehr viel passiert ist. Wie gut, dass es gleich in den riesigen Park geht, die Wuhlheide. Drei Kilometer ohne Kreuzung, ohne Autos und fast schnurgerade. Manchmal sieht man Rehe stehen, und manchmal glaubt man, dass sie einen ansehen. Aber jetzt! Jetzt können die Gedanken kommen. Kommt doch!

1867

Wenn einem doch nur so viel einfallen würde wie dem Uwe Dick. Dieser sprachgewaltige Assoziativdenker aus Bayern ist 200 Mal die knapp 30 Kilometer lange Strecke von Wasserburg am Inn nach Rosenheim gefahren, hin und zurück. „Monolog eines Radfahrers“ heißt das Werk, das so entstanden ist. Da hat er etwa eine Drossel gesehen und will ihr gleich zeigen, wie sie einen Wurm finden kann, und kommt dann doch ins Grübeln. „Der Drossel gönnst du den Wurm, der Katze nicht den Vogel.“ Und schon ist er beim Thema lebenswertes Leben, beim „weltweiten Geschlinge“, bei der Gerechtigkeit, die alle wollen, die aber keiner jedem gönnt.

Uwe Dick freut sich auch, wenn es gut läuft. Und wenn er sich gewiss ist, dass ihm so schnell niemand begegnet? „Sprichst halblaute Monologe, falls du nicht singst.“

Jetzt runterschalten. Den Puls hochjagen. Der Weg zur Arbeit soll schon sportlich sein. Der muss doch einzuholen sein. Was der anhat! Ausgerüstet wie für die Tour de France und kann doch nicht mithalten. Ätsch! Da hilft ihm seine Radlerhose auch nichts. Funktionswäschewahnsinn. Und als Unterhemd ein „X-Bionic Energy Accumulator Evo“ für 129 Euro. Wer’s mag.

Erstmals verlassen die Füße des Fahrers dauerhaft den Boden. Der Trick: Tretkurbeln am Vorderrad. Das ist die Geburtsstunde der Pedale.Mit günstigeren Materialien machte Pierre Michaux sein „Vélocipède“ zum internationalen Verkaufsschlager. Aufgrund seiner eisenbeschlagenen Reifen bietet es allerdings nicht den höchsten Fahrkomfort und wird deswegen auch Knochenschüttler genannt.

Was würden da die alten Recken sagen, die in den 1950er Jahren mit Wolltrikot, Hirschledereinsatz in der Hose die Frankreichrundfahrt bestritten haben? Helden der Landstraße. Schwer zu glauben, dass man ohne leistungssteigernde Mittel die höchsten Pässe derart hochfahren kann. Aber ohne den Sport hätte sich das Fahrrad nicht zu dem entwickeln können, was es heute ist.

Schon bald, nachdem es in den 1860er Jahren mit Pedalkraft angetriebene Räder gab, gab es Sportveranstaltungen für Velozipedisten, jene vornehmen Herrenradler, die sich Freizeit leisten konnten – im Schnellfahren und im Langsamfahren. Es kam eben auf die Balance an. Die Hersteller haben auf diese Weise Werbung für ihre teuren Produkte gemacht, die eine Revolution darstellten.

1870

Sich über Land zu bewegen, das machte man zu Fuß oder mit Hilfe von Pferden. Jahrhundertelang war das so. Als man zu rollen begann, war das auch eine Reaktion auf einen Klimawandel. Das sagt jedenfalls Hans-Erhard Lessing. Er ist Technikhistoriker und beschäftigt sich mit der Geschichte des Radfahrens.

Eine wahre Hungersnot habe 1816 in Süddeutschland geherrscht. Die Nutztiere hatten lange schon kein Futter mehr. Der Preis für Hafer war ins schier Unermessliche gestiegen. Pferde verendeten. Die Staub­eruption des Vulkans Tambora auf der asiatischen Insel Sumbawa hatte sich zu einem gewaltigen Klimaschock ausgewachsen. Die Menschen hatten nichts zu essen, und sie ver­loren mit den Pferden einen Gutteil ihrer Mobilität.

Es könnte die Hungersnot im Badischen gewesen sein, die den Forstmeister Karl Drais erfinderisch gemacht hat. Lessing glaubt daran.

Wer von diesem Rad stürzt, landet meist auf dem Kopf. Der Grund: Beim Hochrad liegt der Schwerpunkt vorne.Dennoch ist es sehr beliebt. Durch das große Vorderrad können mit nur einer Kurbelumdrehung weitere Wege zurückgelegt werden. Mit mindestens 400 Reichsmark (Jahresgehalt eines Arbeiters) ist die Erfindung des Engländers James Starley allerdings für die breite Masse viel zu teuer.

Im Juni 1817 hatte Drais Mannheim auf dem selbst entwickelten Laufrad verlassen, ist bis zum Schwetzinger Relaishaus laufgefahren, hat dort gewendet und war nach etwa 14 Kilometern wieder am Ausgangspunkt. Weniger als eine Stunde war er unterwegs – viermal so schnell wie eine Postkutsche.

Das Fahrrad ist alles andere als ein Gleichmacher

1879

Die nerven doch da vorne. Fahren nebeneinander und unterhalten sich. Müssen die denn nicht zur Arbeit? Oder haben sie einfach nur mehr Zeit für den Weg eingeplant? Weg da! Aus der Bahn! Es gibt auch asoziale Radler. Diese Schleicher, die an jeder roten Ampel ganz vorne an der Querstraße zum Stehen kommen, sich vor einen stellen und dann in aller Ruhe losradeln, sich überholen lassen und bei der nächsten Ampel wieder vorbeizuckeln und sich ganz vorn an der Kreuzung aufbauen. Nicht jeder Radler ist ein besserer Mensch.

Anders sind eh alle. Zeig mir dein Rad, und ich sage dir, wer du bist. Der Hipster fährt den Retrorenner am liebsten ohne Freilauf, Licht und Bremsen, das Paar im Sonntagsausflugsmodus mit den nagelneuen Schöffel-Jacken fährt auf so Dingern von Aldi oder Real, der Rentner mit dem bunten Profitrikot den neuesten Renner aus Carbon, die kleine Frau ein riesiges Hollandrad, und der junge Angeber sitzt auf seinem Gefährt wie ein Rocker auf dem Chopper.

Schon mehr wie ein Fahrrad von heute sieht das „gewöhnliche Zweirad“aus. Der Brite Harry John Lawson schafft ein Fahrrad, das erstmals einen Kettenantrieb zum Hinterrad hat – und holt den Fahrer langsam zurück auf den Boden. Das größere Vorderrad ist lediglich ein Überbleibsel aus vergangenen Hochradtagen.

Als Statussymbol taugt das teure Designerrad mit dem handgeschweißten Stahlrahmen, als Zeichen für Understatement das Ost-Klapprad. Nein, ein Gleichmacher ist das Rad nicht. Es kann sich nicht jeder das beste leisten, aber leisten können sich fast alle eins.

Das war nicht immer so. Nur die besseren Herrschaften pedalierten gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Und als die ganz hohen Hochräder ihre Blütezeit erlebten, war es eben nicht schlecht, wenn man einen seiner Diener bitten konnte, doch das Rad festzuhalten, wenn es den Sattel zu erklimmen galt.

1885

30 Meter nur – und doch ein tägliches Ärgernis. Neu verlegtes Kopfsteinpflaster auf der als Radweg markierten Strecke. Wer kommt auf solche Ideen? Das ist Berlin und nicht Dinkelsbühl.

Der Straßenbelag war schon für die ersten Radler Ärgernis. Die tiefen, fest getrockneten Furchen auf den für Fuhrwerke ausgerichteten Straßen in den Städten wurden von den Radfahrern gemieden. Sie bevorzugten die Bürgersteige und kamen in Konflikt mit den Fußgängern. Frühe Radlrambos. Es hagelte Verbote. Raus mit den Radlern aus den Städten! Von 1870 bis 1895 herrschte etwa in Köln absolutes Fahrverbot.

Der Prototyp des modernen Fahrrads ist geschaffen: Dia­mantrahmen, Pedale unter dem Sattel, Kettenantrieb über das Hinterrad, die Lenkstange am Vorderrad. All das ist immer noch Bestandteil moderner Fahrräder. Zuvor experimentierten Erfinder mit vielen Entwürfen, aber der Rover des Engländers John Kemp Starley setzte sich letztlich durch. Im Gegensatz zum Hochrad ist dieser Fahrradtyp viel sicherer.

Und heute? Es wird besser. Der schlecht gepflegte Radweg, der auf dem Bürgersteig verläuft, ist ein Auslaufmodell. Weg von der Straße!, hieß es lange. Man hat Radfahrer hinter parkenden Autos versteckt. Und wehe, sie sind nicht ganz vorsichtig an der Kreuzung, an der gerade ein Lkw abbiegt! Was hatte der Polizist gesagt? „Und morgen steht wieder etwas von einem toten Radler in der Zeitung!“ Radspuren gehören auf die Straße!

1960

Oft dürfen die Radler sogar auf der Straße fahren und wissen es nur nicht. Die alten, engen Spuren, die mal als Radweg gebaut worden sind, muss man nicht benutzen, wenn sie nicht als Radweg gekennzeichnet sind. Die Autofahrer wissen das oft auch nicht und schreien aus geöffneten Beifahrerfenstern, dass man gefälligst auf dem Radweg fahren soll. Lass sie hupen, denn sie wissen nicht, was die Regel sagt!

Jetzt geht es richtig gut. Ein Kilometer feinster Asphaltbelag. Noch einmal runterschalten und so fahren, dass man seine Waden spürt. Der Schweiß tropft vom Kinn auf den Lenker. Es läuft, wenn der Weg gut ist. Radbahnen sind im Kommen. Radschnellwege werden sie genannt, die breiten, fußgängerfreien Fahrbahnen, auf denen Niederländer oder Belgier schon seit den 1980er Jahren beinahe kreuzungsfrei rollen dürfen.

Der Autoboom sorgt für einen Imageverlust des Fahrrads. Die Industrie sucht neue Nischen. Das Bonanzarad ist vor allem für Jugendliche gedacht. Typisch sind ein bananenförmiger Sattel, verkleinerte Reifen und die an ein Hirschgeweih erinnernde Lenkstange. Das Bonanzarad ist Vorläufer des BMX und wird zuerst in den USA Kult, dann auch in Deutschland.

Ein solcher Weg durchs ganze Ruhrgebiet ist schon geplant, erste Abschnitte sind freigegeben. In Wuppertal kann man auf der ehemaligen Nordbahntrasse 23 Kilometer lang rasen, was die Beine hergeben. Oder eben einfach Rad fahren. In München sind sechs Schnellwege in Planung. Auch die neue rot-rot-grüne Regierung von Berlin will dem Radverkehr Beine machen.

1975

80 Schnellwege haben die Bundesländer angemeldet, weil sie Gelder von der Bundesregierung wollen. Für etwa 50 davon sind die Kosten schon mal durchgerechnet worden. 750 Millionen Euro wären es. Der Bund hat aber nur 25 Millionen Euro dafür in seinem Haushalt reserviert. Viel ist das nicht. Immerhin lebt die Idee. Ein Radschnellweg soll nach den Förderrichtlinien vier Meter breite Fahrbahnen haben, von mindestens 2.000 Radfahrern am Tag benutzt werden und zehn Kilometer lang sein. Ob es was wird bei all dem Gerede von maroden Autobahnbrücken? Es wäre ein Traum.

Der Alte da vorne. Warum ist der nur so schnell? Klar, der hat ein Elektrofahrrad. Technodoping. Das kann man unfair finden. Der Zweirad-Industrie-Verband schreibt, dass 2015 in Deutschland 535.000 E-Bikes verkauft worden sind. Über 2,5 Millionen solcher Dinger sollen schon in Deutschland unterwegs sein. Der Geschäft wächst weiter. Radeln, ohne zu schwitzen. Die deutschen Hersteller bewerben das E-Bike als ideales Verkehrsmittel für den Weg zur Arbeit. Das Radfahren befreit sich von der Muskelkraft.

Die Anfänge des elektrisch betriebenen Fahrrads reichen zwar bis ins späte 19. Jahrhundert zurück. Wirkliches Vorbild für heutige E-Bikes ist aber erst die Produktion des Panasonic-­Firmengründers Konuske Matsushita.Die Batterie befindet sich hier am Sattelrohr, der Motor am Tretlager. Auch dieses Bike wird wie seine Vorgänger aber noch nicht in Serie gebaut.

Mit Muskelkraft zu Freiheit und Gerechtigkeit

1977

Jetzt läuft das Denken wie die frisch zentrierten Laufräder: E-Bike, Strom, Steckdose, Kohle, Dreckschleuder. Das Kraftwerk, an dem es jetzt vorbeigeht, macht den Nieselregen braun. Dass so etwas erlaubt ist! ­Berlin-Rummelsburg. Zehn Kilometer sind geschafft im Angesicht der Heizmaschine für die ganze Stadt. Ob einer, der hier arbeitet, wohl mit dem Rad zur Schicht fährt? Als die Schlote zu rauchen begannen, konnten sich die Arbeiter ein Rad nicht leisten. Doch schnell wurden die Räder billiger. Um 1870 kostete ein Rad meist mehr als 600 Reichsmark. 1910 war es für 28 Reichsmark zu haben. Ra­tio­na­li­sie­rung und neue Fertigungstechniken hatten aus dem Einzelstück ein Massenprodukt gemacht. Dumpingimporte aus den USA taten ein Übriges. Für Hans-Erhard Lessing, dessen „Kulturgeschichte des Fahrrads“ im April erscheinen wird, wurde das Rad zum „sozialen Hoffnungsträger“. Endlich konnten sich Arbeiter ein eigenes Fahrzeug leisten. Schnell verlor das Radfahren alles Elitäre.

Und die Frauen fahren mit. Schon vor 1900 gibt es erste Frauenfahrradklubs. Mit dem Rad kommt auch die Frauenhose. Das Rad als Eman­zi­pa­tions­ka­ta­ly­sa­tor? Könnte sein. Es ist ein Prozess, der noch läuft. Der Soziologe Marc Augé stellt sich die Fahrradzukunft so vor in seiner Utopie: „Und die ­Fahrradmode hat endgültig auch diejenigen Mädchen befreit, die noch von rückständigen Eltern oder rückwärtsgewandten Brüdern daran gehindert wurden, auf diese teuflische Maschine zu steigen.“

Auf dem Mount Tamalpais in den USA beginnt die Geschichte dieses Fahrrads. Weil herkömmliche Modelle nicht für die ­halsbrecherischen Talfahrten taugten, statteten die Kalifornier Gary Fisher, Joe Breeze und Charles Kelly ausgediente Vorkriegsräder mit Zubehör der Motocross-Szene aus. Mit Stollenreifen und verstärktem Rahmen aus Stahl erinnerten sie schon damals an die Mountainbikes von heute.TEXTEAndreas Neukam

Jetzt wird es hart. Im letzten Viertel der Strecke muss das Denken pausieren. Im Berufsverkehr ist Konzentration gefragt. Von Treptow führt der Weg nach Kreuzberg. Der erste Innenstadtbezirk empfängt den Radler mit Scherben von der letzten Partynacht, Parken in zweiter Reihe, Taxis und Busse mit eingebauter Vorfahrt und Ampeln alle naselang. Ein Hochrad würde man sich wünschen bei all den kleinen Frauen, die ihre Kinder in viel zu großen Autos zur Schule fahren.

Die nächste Ampel ist rot. Zwei Radler fahren einfach weiter, 20 weitere warten auf Grün. Viele sind es. Und es werden mehr, je länger die Tage dauern. Sie brauchen Platz. Gebt ihnen den, bevor sie sich ihn nehmen.

Noch einmal über die Straße, parken, duschen, einen Kaffee holen und dann an den Schreibtisch. Und in ein paar Stunden geht es auf derselben Strecke zurück. Wie jeden Tag. Und doch ist es immer anders. Wer denkt schon zweimal genau das Gleiche?

Andreas Rüttenauer ist Redakteur für dies und das in der taz. Er fährt fast jeden Tag 20 Kilometer mit dem Rad zur Arbeit. Dieser Text entstand in seinem Kopf während seiner Fahrt am vergangenen Montag