Es ist Liebe ohne Zweifel

Equus ferus Eine Liebe zwischen Pferd und Mädchen. Und drei Erwachsene, die nicht klarkommen: Mary Gaitskills „Die Stute“

Mary Gaitskill Foto: Tabita Soren

Von Jenny Friedrich-Freksa

Dieses Buch ist kein Pferdebuch. Es heißt zwar „Die Stute“ und erzählt von einem Mädchen, das ein Pferd liebt, ansonsten aber hat es mit dem Genre nicht viel zu tun. Es ist unter anderem ein Buch über Mütter, oder besser: über Mütterlichkeit. Der englische Originaltitel „The Mare“ schlägt einen sprachlichen Bogen zum französischen Wort für Mutter, „mère“, das funktioniert mit dem deutschen Wort „Stute“ leider nicht.

Die elfjährige Velvet lebt mit ihrer Mutter und ihrem jüngeren Bruder in ärmlichen Verhältnissen in Brooklyn. Ihr Vater ist verschwunden, und die Mutter überfordert damit, Geld zu verdienen und für die Kinder da zu sein. Mit ihrem kleinen Sohn kommt sie gut zurecht, aber ihre Tochter Velvet, die im Lauf des Buchs ins Teenageralter kommt, macht sie permanent runter. „Regretting motherhood“ ist ihr Thema, wobei Velvets Mutter wahrscheinlich eher „fuck motherhood“ sagen würde.

Mit einem Programm des „Fresh Air Fund“ wird Velvet in den Ferien zu Ginger und Paul geschickt. Sie ist Künstlerin, er Dozent, ein weißes Mittelschichtspaar. In einem Reitstall in der Nähe lernt Velvet zum ersten Mal Pferde kennen, besonders eine schwierige Stute hat es ihr angetan. Sie freundet sich mit ihr an und stellt zum ersten Mal in ihrem Leben fest, dass sie etwas gut kann: das Vertrauen eines Pferdes gewinnen, reiten. „Ein goldbraunes Pferd donnerte in seinem Stall wie verrückt die Hufe gegen die Wand und biss am Holz herum. Es rollte so wild mit den Augen, dass man das Weiße sah. Aber es war das beste Pferd bis jetzt, nicht das schönste, aber das beste. An seinem Stall waren keine Bänder oder Spielsachen, nicht mal ein Name war da, nur ein Schild, auf dem ‚Nicht anfassen‘ stand.“

Velvet darf sich im Schlaf an ihre Mutter schmiegen. Manchmal kämmt die Mutter ihr die Haare, ansonsten ist sie ihr körperlich fern. Viele Männer und Jungen wollen Velvet anfassen, die wenigsten von ihnen will auch sie berühren. Über die Annäherung an das Pferd, die Stute, begreift Velvet, wie man jemanden berührt, der Angst vor Berührung hat. Beide fassen Vertrauen zueinander: Das laute, wütende Pferd versteht, dass das Mädchen ihm Gutes tun will. Das Mädchen erkennt, dass die Stute sie akzeptiert. Und es genießt die Nähe des Pferdes: die Wärme seines Körpers und seine Kraft. Gleichzeitig gewinnt Velvet durch ihre Fähigkeit, mit der komplizierten Stute zurechtzukommen, Prestige. Sie kann etwas, das andere nicht können.

Velvets Mutter interessiert sich wenig für die Reitversuche ihrer Tochter, verhindert sie aber auch nicht. Sie fragt sich eher, warum Ginger eine Ersatzmutter für Velvet werden will: „Sie hat sich so wichtig gemacht, ist auf mich zugekommen, als ob sie meine Tochter besser kennt als ich.“ Auf den ersten Blick ist die Konkurrenz der Frauen etwas klischeehaft stutenbissig: hier die privilegierte Weiße, die ein schwarzes Kind unterstützen will, dort die schwarze Mutter, die nichts auf die Reihe kriegt und der geholfen werden muss.

Diese Konstellation spinnt Mary Gaitskill allerdings gekonnt weiter, indem sie erzählt, wie viel diese Frauen voneinander sehen, ohne zu ahnen, was die jeweils andere alles versteht. Velvets Mutter weiß nicht, dass Ginger trockene Alkoholikerin ist, aber sie merkt, dass da noch etwas anderes ist als eine gutsituierte Frau, die gern weiße Kleidung trägt und bei Macy’s einkauft.

Mary Gaitskill ist eine feinsinnige Autorin. Manchmal übertreibt sie die Gefühls­ebe­ne ein wenig. Sie erzählt die Geschichte aus vier verschiedenen Blickwinkeln. Die Beziehungen dieser vier Personen sind von Zuneigung und Hass geprägt. Alle Handelnden, Velvet, ihre Mutter, Ginger und Paul tragen Ambivalenzen in sich, die sie nicht mit den anderen teilen können. Die ehrlichste Verbindung ist jene zwischen Velvet und der Stute, und vielleicht ist das so, weil die beiden ohne Worte miteinander kommunizieren. Sie verstehen sich über ihre Gesten, ihre Mimik und ihre Körper.

Während die Menschen darum ringen, etwas füreinander zu empfinden, das nicht gleichzeitig von einem negativen Gefühl oder einer Skepsis überlagert wird, finden Stute und Mädchen einen Weg, einander zu lieben, ohne ständig zu zweifeln. Beide erobern sich mühsam ihr Urvertrauen zurück, nachdem andere es verletzt haben.

So erzählt „Die Stute“ auch die Geschichte eines Mädchens, das von einem Pferd etwas bekommt, was es bei Menschen nicht finden konnte.

Mary Gaitskill:„Die Stute“. Aus d. Englischen Barbara Heller v. u. Rudolf Sorge. Klett-Cotta, Stuttgart 2017. 541 Seiten, 25 Euro