Jetzt wird sogar geschossen

gewalt Die politischen Auseinandersetzungen in Sachsen eskalieren. Steinwürfe, Schmierereien, Brandsätze. Mit den Schüssen auf das Büro der Linke-Abgeordneten Juliane Nagel wurde ein trauriger Höhepunkt erreicht

Mehr als nur eine Drohung: Einschussloch im Bürofenster von Juliane Nagel Foto: dpa

von Markus Lücker

Wie das Fressloch eines überdimensionierten Holzwurms klafft die Einschussstelle im Fensterrahmen. Ein kleiner Tunnel, sieben Millimeter breit, sieben Millimeter hoch. Ein unaufmerksamer Passant könnte es übersehen. Doch dann ist da ein weiteres Loch, zersplittertes Glas – Linxxnet mit dem Büro der Landtagsabgeordneten Juliane Nagel. In der Nacht zum 31. März wird zweimal darauf geschossen. Nagel: „Wir lassen uns nicht einschüchtern!“ Die Ermittlungen laufen.

Zwei glückliche Zufälle. Erstens: Das Linxxnet ist zum Zeitpunkt der Schüsse menschenleer. Niemand wird verletzt. Zweitens und zynischer: Am 27. März wurde dieselbe Schaufensterscheibe bereits beschädigt. Es hätte ohnehin repariert werden müssen.

Neun politisch motivierte Angriffe auf Räume der Linkspartei in Leipzig und dem dazugehörigen Landkreis sind es insgesamt, die seit 2014 beim sächsischen Landeskriminalamt registriert wurden. Meistens Sachbeschädigung: Steinwurf, geschmierte Parolen. Aber auch Diebstahl, „Heil Hitler“-Rufe und umgeschmissene Infostände.

Zwischen Januar und Ende Oktober 2016 wurden sachsenweit 71 Anzeigen wegen Angriffen auf Büros von Abgeordneten erstattet. 26 kamen von der Linkspartei, 32 von der AfD. 2014 waren es insgesamt 29, im Folgejahr bereits 40 Fälle.

Die Geschichten lesen sich wie die Chronik einer Eskalation: der Aufstieg der AfD in Sachsen, Legida, Hooligans. Und nun, am 31. März, auch die ersten Schüsse auf ein Parteibüro.

Gewalt in der Politik. Chronik einer Eskalation
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14. 3. 2014 Europawahl steht an. Der Spitzenkandidat der NPD, Udo Voigt, will eine Rede im Leipziger Parteibüro halten. Etwa 100 Menschen blockieren die Veranstaltung. Laut Voigts Angaben fliegen „mit Teer gefüllte Wurfgeschosse“. Im September schließt das NPD-Büro. Die Partei setze künftig auf ein „dezentrales Konzept“.

27. 6. 2014 Kaputte Scheiben bei der Leipziger Grünen-Geschäftsstelle. Im Internet taucht ein Bekennerschreiben auf. Die Täter: anscheinend Linke. Die Motivation: Wut auf die Situation Geflüchteter in der Berliner Gerhard-Hauptmann-Schule und das Verhalten der grünen Politiker im Bezirksamt in Friedrichshain-Kreuzberg.

31. 8. 2014 Wahlen in Sachsen. Die NPD fliegt nach zehn Jahren aus dem Landtag, die AfD erreicht im ersten Anlauf 9,7 Prozent der Stimmen.

31. 12. 2014 Die Opferberatungsstelle RAA Sachsen e. V. zählt für 2014 in Leipzig 57 rechtsmotivierte Angriffe auf Menschen. In keiner anderen sächsischen Stadt werde häufiger aus Rassismus zugeschlagen.

12.1 . 2015 Legida läuft zum ersten Mal. In der Stadt versammeln sich zwischen 2.000 und 3.000 Islamfeinde.

18. 3. 2015 Frauke Petry eröffnet ein AfD-Bürgerbüro in Borna bei Leipzig. Drei Wochen später: Unbekannte bekleben die Bürofenster mit „Die AfD ist rassistisch“-Aufklebern. Zwei weitere Wochen später: Unbekannte schreiben mit schwarzer Farbe „FCK NZS“ auf dieselbe Fensterfront.

20. 8. 2015 Anschlag auf die Purinvent System GmbH. Das von Frauke Petry geführte Unternehmen wird das Ziel übelriechender Buttersäure. Scheiben werden zerschlagen. Ein Bekennerschreiben folgt: „Wir werden uns mit den gegenwärtigen rassistischen Gegebenheiten nicht abfinden.“

13. 9. 2015 Linke-Parteitag in Neukieritzsch bei Leipzig. 34 Scheiben des Tagungsgebäudes wurden über Nacht von Unbekannten zerstört. 250.000 Euro Schaden. Die Linke setzt ihren Parteitag fort.

11. 1. 2016 Parallel zur ersten Jahresfeier von Legida ziehen 215 rechte Hooligans, Kampfsportler und Neonazis durch das linksalternative Viertel Connewitz und verwüsten eine Straße.

14. 4. 2016 Das Wahlkreisbüro der Linken in Leipzig-Grünau wird mit Pflastersteinen beworfen. Die Schaufensterscheibe wird beschädigt. 14 Mal in diesem Jahr werden Scheiben von Büros der sächsischen Linkspartei zu Bruch gehen.

17. 9. 2016 Frauke Petrys Auto steht in Flammen. Die Polizei geht von einem Anschlag auf den im Leipziger Musikviertel geparkten Seat aus. Petry macht indirekt die „Hetze von Gabriel, Stegner, Maas und Co.“ verantwortlich.

4. 10. 2016 Die Leipziger CDU-Bundestagsabgeordnete Bettina Kudla kritisiert Merkels Asylpolitik, fürchtet die „Umvolkung“ Deutschlands. Ein Nazibegriff. Unbekannte schmeißen vier Scheiben ihres Büros ein und beschmieren die Fassade mit einer teerähnlichen Flüssigkeit.

31. 12. 2016 In Borna wird ein Wahlkampfbus der Linkspartei angezündet. Das Fahrzeug brennt aus. Laut Partei entsteht ein Schaden im fünfstelligen Bereich.