Befreiung, nackt im Schwimmbad

Kino Vom Jugendheim in die repressive Toleranz: Die Brotfabrik zeigt Johannes Schaafs Spielfilm „Tätowierung“ von 1967 mit dem späteren RAF-Terroristen Christof Wackernagel in der Hauptrolle

Zu Beginn wirkt der junge Held fremd und verkrampft in seinem Körper, am Ende ist er nackt und agil Foto: Still: Berlin-Film-Katalog

von Detlef Kuhlbrodt

Lange Zeit war man gewohnt, die Nachkriegsgeschichte der BRD und Westberlins zu teilen in vor und nach 68. 68 war die Chiffre für die antiautoritäre Revolte gegen das Establishment, gegen die Nazieltern; 68 stand für Woodstock, Sex, Drogen, die Erfindung des Teenagers und den Beginn der internationalen Jugendkulturen, die langsam zu einem Wirtschaftsfaktor wurden.

Der 1967 auf der Berlinale uraufgeführte Film „Tätowierung“ von Johannes Schaaf (u. a. „Momo“, 1986) wirkt in Bezug auf 68 und die Folgejahre fast prophetisch. Benno, der 16-jährige Held des Films, wird von Christof Wackernagel gespielt, der sich zehn Jahre später der RAF anschließen sollte, und trägt den gleichen Vornamen wie Benno Ohnesorg, der drei Wochen vor der Berlinale 1967 erschossen wurde. Das in der Entstehungsgeschichte der RAF so wichtige Jugendheimthema klingt an, und „Tätowierung“ lässt sich auch als Illustration des Begriffs der „repressiven Toleranz“ lesen, über den Herbert Marcuse 1965 seinen berühmten Essay geschrieben hatte.

Rauchender Revolver

„Schon die Frühnachmittagskassen wurden von jungen Fans gestürmt. ‚Tätowierung‘ – so hatte sich herumgesprochen – plädiert dafür, dass die Jugend sich vom Gängelband der neunmalklugen Erwachsenenwelt abhakt und sich freischwimmt, nachdem der Revolver einmal geraucht und die Kugel dem falschen Vaterbild einmal in’s Herz getroffen hat“, schrieb damals das Hamburger Abendblatt über die Premiere.

Der durchgehend in Westberlin an Originalschauplätzen gedrehte Film erzählt von dem 16-jährigen Benno, einem in sich gekehrten Heimzögling, der von dem liberalen, toleranten Unternehmerehepaar Lohmann adoptiert wird.

Zur Familie des kinderlosen Ehepaars gehört auch Gaby (gespielt von der damals 19-jährigen Helga Anders), die etwas älter ist als ihr neuer Bruder. Die meisten Szenen spielen in der Gegend der Lohmann’schen Mosaikfabrik (das Fabrikgebäude der traditionsreichen Keramikfirma Puhl & Wagner in Neukölln, 1972 abgerissen).

Vielleicht auch, weil die Vorfahren aus kleinsten Verhältnissen kamen, bemühen sich die Lohmanns sehr um den stillen Jungen. Sie vermitteln ihm eine Ausbildung als Koch und zu billigen Konditionen ein Moped, sehen über Fehler hinweg, geben sich verständnisvoll, nur manchmal zeigt sich eine „alte Gesinnung“, wenn der Fabrikbesitzer erzählt, sein Lebensmotto wäre „Was dich nicht umwirft, macht dich nur stärker“, oder wenn er Benno wegen falscher Grammatik korrigiert, als der aufgewühlt von „dem sein Vater“ erzählt, der mehrere Menschen umgebracht hätte.

Lehre drangegeben

Benno freundet sich zwar mit seiner neuen Schwester an, gegen Ende schlafen sie sogar zusammen, doch so recht wohl fühlt er sich nicht in der Familie und sehnt sich zurück in den Jugendhof. Er gibt seine Lehre auf, hängt mit einem kleinkriminellen Freund rum. Nachdem Lohmann ihm eine neue Arbeit bei seinem Bruder, einem Teppichhändler, vermittelt hat, stiehlt er einen Teppich. Der Ziehvater bringt auch das wieder in Ordnung, ohne zu schimpfen.

Eine Weile hat man das Gefühl, in einem optimistischen DDR-Film aus den frühen 70ern zu sein, ist beeindruckt von der Eleganz des Films und der kunstvollen Kamera von Wolf Wirth, freut sich über die Jazzmusik von George Gruntz und dokumentarisch wirkende Passagen aus dem Arbeitsleben oder darüber, dass Lehrlinge gerne Ost-Radio hören, weil es dort bessere Musik gibt.

Das Ende, bei dem dann alles in einem neuen Licht erscheint, kommt überraschend, wirkt nicht unbedingt plausibel und ist für Benno wie eine Befreiung. In der Schwimmbadszene zu Beginn wirkt der junge Held fremd und verkrampft in seinem Körper, in der am Ende des Films ist er nackt und agil.

„Tätowierung“ gilt zwar als eine der wichtigsten Produktionen des Jungen Deutschen Films und wurde 1968 mit drei Bundesfilmpreisen ausgezeichnet. Zuletzt wurde der Film nur sehr selten gezeigt. Dem Berlin-Film-Katalog, einem Projekt zur Erstellung einer vollständigen und detaillierten und kostenlos nutzbaren Berlin-Film-Datenbank im Internet, gebührt das Verdienst, diesen schönen und in vieler Hinsicht interessanten Film aus der Versenkung geholt zu haben.

Brotfabrik-Kino, 10.–12. April, 18 Uhr