MORAL IM WEDDING
: „Ich will ’n Neues“

Irgendetwas sagen über Moral und Mitgefühl

Am Bahnhof Wedding steht ein bleicher Junge mit einer Frisur irgendwo zwischen Marco Reus und Vanilla Ice und zieht nervös an einer Zigarette. Er hält sie wie im Film, zwischen Daumen und Zeigefinger, doch er bläst den Rauch eilig wieder aus. Er ist noch jung.

Nach jedem Zug blickt er verstohlen und aufgeregt durch das Schaufenster des „Tele-Internet.Café – An- und Verkauf“. Drinnen vor dem Verkaufstresen steht ein dicklicher, dunkelhaariger Junge mit Flaum über den Lippen und biete dem Verkäufer ein Mobiltelefon zum Kauf an.

„Ich will ’n Neues“, nuschelt der Junge.

„Und, was willst’ für haben?“, fragt der Verkäufer.

„Fuffzsch.“

Der Mann hinter dem Tresen zieht die Augenbrauen hoch. Jetzt wird gepokert.

„Oder halt ’n neues Telefon“, sagt der Junge – aber da nickt der Verkäufer vielsagend in meine Richtung. Das Gespräch verebbt. Ich bezahle die kleine Flasche Wasser, die ich während all dem aus dem leuchtenden Coca-Cola-Kühlschrank geholt habe, und verlasse das „Tele-Internet.Café“. Auf meinem kurzen Weg zur Tür schweigen der Junge und der Mann. Dann findet hier, denke ich, ein Verbrechen statt. Ein kleines zwar, aber dennoch: ein Verbrechen. Kurz überlege ich, einzuschreiten und irgendetwas zu sagen über Moral und Mitgefühl, um so dem jungen Leben mit meinem Pathos eine bessere Richtung zu gehen. Bloß: was?

Ich verlasse den Laden, die sich öffnende Tür macht ein Klingelgeräusch. Während ich draußen in der fahlen Herbstsonne stehe und mein 1-Euro-Wasser trinke, glaube ich für einen Augenblick, gerade mehr als in mancher Reportage und jedem „Tatort“ über die Angespanntheit, über das die Nervosität überspielende, leicht in Gewalt umschlagende Gehabe des Verbrechens gelernt zu haben. Andererseits: Was weiß ich schon von Verbrechen? DANIEL ERK