Deutschland, mach dich sexy!

LEITKULTUR WTF Lustfeindlich, geschmacklos und geizig: Deutsch sein ist bei vielen Migrant_innen eher Beleidigung als Ziel. Wo bitte bleibt das funkelnde Versprechen?

Funktionskleidungs-Biedermeier, aus dem sich noch lange kein Einkommen ablesen lässt Foto: Andreas Herzau/laif

von Hengameh Yaghoobifarah

Das hatte noch gefehlt: Am Wochenende haute der Bundesinnenminister Thomas de Maizière zehn Punkte raus, die eine deutsche Leitkultur ausmachten. Daran gab es viel Kritik, etwa, weil er mit Sätzen wie „Wir sind nicht Burka“ viel Nonsense abgeliefert hat. Sein Integrationsappell richtet sich auch an weiße Deutsche, die ihre Patriot_innenrolle übertreiben und im rechten Sumpf schwimmen, in erster Linie erinnert es jedoch an ein Sarrazin-2.0-Manifest.

Für viele Migrant_innen und Personen of Color ist „deutsch“ eher eine Beleidigung als ein anstrebenswertes Ziel. Sobald sich eine_r als geizig herausstellt, respektlos gegenüber den Eltern ist, mit Straßenschuhen auf Teppichboden in Wohnungen läuft oder auf viele Arten auch lustfeindlich erscheint, wird eine_r als „deutsch“, „alman“ oder „Kartoffel“ diffamiert. Was bringt es also, die deutsche Leitkulturkeule zu schwingen, ohne Deutschland auch nur annähernd attraktiv zu machen?

Ein populäres Narrativ, das etwa hinter dem „American Dream“ in den USA steckt, ist das wirtschaftliche Aufblühen in dem Land. Vom Tellerwaschen zum Geldscheffeln: wenn eine_r es nur genug will und das Ziel ehrgeizig verfolgt. Dieser neoliberal-kapitalistische Mythos wird in den meisten Fällen natürlich nicht Realität, weil es strukturelle Diskriminierungen gibt und diverse gläserne Decken, die Menschen aus migrantischen, armen oder nicht-weißen Familien von ihrer beruflichen Selbstverwirklichung abhalten.

Doch wenn selbst all das nicht existierte, ist die Vorstellung, in Deutschland auf dem wirtschaftlichen Peak zu sitzen, ziemlich unglamourös. Denkt eine_r an reiche Menschen in den USA, kommen mondäne Assoziationen mit prestigeträchtigen Gütern auf: die Villa mit Pool, aufwendigen Geburtstagsfeiern für 16-Jährige, Designerware im begehbaren Kleiderschrank, ein SUV fürs Einkaufen und ein Porsche zum Herum­cruisen sowie ein Handtaschenhund, der besser frisiert ist als die meisten deutschen Politiker_innen. Dieser exzessive und prunkvolle Habitus taucht in Deutschland selten auf, meistens eher bei Adeligen. Nicht weil alle so arm sind, sondern eher, weil die meisten gut situierten Deutschen Geld, aber keinen Geschmack haben.

Was bringt es, die deutsche Leitkulturkeule zu schwingen, ohne Deutschland auch nur annähernd attraktiv zu machen?

Eine_r kann stinkreich oder Bundespräsident_in sein und sich dennoch für ein Haus in der Provinz mit strom- und wassersparenden Funktionen statt Pool und Diskoraum entscheiden, trägt trotzdem langweilige Funktionskleidung und profiliert sich über ein großes Bücherregal oder den Weinkeller. Es gibt nicht mal geile Anlässe, viel Geld auszugeben, weil hier die meisten Angebote so bürgerlich und bieder sind. Wo bleibt das funkelnde Versprechen?

Mit viel Glück wird eine_r nicht wie die Eltern putzen oder Taxi fahren, sondern kann studieren. Je nach Berufswunsch und Dresscodes kann es aber sein, dass eine erst mal vor das Verfassungsgericht muss, weil sie ihr Kopftuch als Lehrerin nicht tragen darf. (Übrigens ist die weibliche Kopfbedeckung in fast allen Religionen ein Thema, Stichwort Religionsfreiheit und unterschiedliche Lebensmodelle.) Von den beigetragenen Steuergeldern wird dann unter Umständen das Land zerbombt, in dem die Großeltern noch leben. Auf das Ganze soll eine_r auch noch stolz sein, weil ein Land und seine Ideologie individuelle Glücksgefühle hervorrufen sollen. Klingt eklig, ist auch so. Aber Deutsche auf ihre Geschichte ansprechen soll eine_r eher ungern, weil schwieriges Thema und lückenhafte Aufklärung.

Was gerade fehlt, ist also vielleicht gar keine langatmige Integrationsdebatte, sondern ein paar Realitätsschellen an die deutsche Leidkultur.