„Noch einen für mich“

Das Publikum kennt sie als die Fröhliche, die Frivole. Als die ewig Lächelnde, die „dickste Hure Deutschlands“. Jetzt gibt es bei Molly Luft keinen Sex mehr, nur noch Alkohol

VON THOMAS FEIX (TEXT) UND ANJA WEBER (FOTOS)

Molly Luft seufzt. Sie ist gierig nach fettig. Was sie sich brät, muss im Fett ersaufen. Am liebsten Schweinebraten mit Kruste. Das Bratfett schlürft sie mit dem Esslöffel aus der Pfanne. Dann die Tage, da muss es Sahne sein, ein halber Liter auf ex, versetzt mit Süßstoff. Und immer wieder Konfekt, schachtelweise, wie ein Beruhigungsmittel – Pralinen, Champagnertrüffel. Es hilft nicht.

306 Pfund wiegt sie. Über drei Zentner, bei einssiebenundsechzig Körpergröße. Früher war es sogar ein halber Zentner mehr. Früher, als sie noch Bordellchefin war. Eine Unternehmerin, die zwölf Frauen beschäftigte und selber mitarbeitete. Die sich als die Dicke, die Lustige in Talkshows drängte und selbst eine auf dem Berliner Regionalfernsehsender OCB hatte. Nachdem sie im vergangenen November das Bordell verkauft und eine Eckkneipe übernommen hatte, verlor sie über zwanzig Pfund, und jetzt hat sie schon wieder zehn zugelegt. Die Kneipe ist ihr Spielzeug. Sie muss nicht davon leben. Im März ist sie 61 geworden. Sie schreibt viel Tagebuch, am Computer, täglich, sie schreibt alles auf, auch, welche Interviews sie gegeben hat. Sie will etwas ausfüllen, sie weiß nur nicht, was. Also isst und schreibt sie und sieht fern. Alles gleichzeitig; sie will oben links auf dem Computermonitor ein extra Fenster für das Fernsehprogramm haben. Sie hat gehört, dass so was geht. Über Fischer und Schröder redet sie, als säße sie vor Kamera und Mikrofon und nicht an einem Tisch in ihrer Kneipe, vor sich einen großen Fudschi, Weinbrand mit Cola gemischt. Den vierten an diesem Abend.

Vielleicht sind es die Männer, die ihr fehlen. Nicht die Freier, 90.000 in dreißig Jahren. Sie rechnet mit einem Blick nach oben und schneller Lippenbewegung nach. Nein, sagt sie dann, ich meine Männer. MÄNNER!, verstehen Sie?

Männer in Uniform, Männer mit sehnigen Unterarmen, mit „aktiven“ Unterarmen, machen sie schwach. Ihr Vater war ein Mann in Uniform. Einer, der Befehle erteilte. Das Foto, das sie von ihm hat, zeigt ein unauffälliges Gesicht um die vierzig in SA-Uniform mit drei Sternen und einem Balken auf den Kragenspiegeln. Ein Passfoto, die Augen darauf blicken am Betrachter vorbei. Molly fragt sich, wie viel von dem Mann auf dem Foto in ihr steckt. Erzeuger nennt sie ihn. Sie hat ihn nie kennen gelernt, sie ist unehelich geboren.

Es ist nachts um zwölf; Molly schluchzt auf, presst die Fingerknöchel an die Lippen. Die schwerkranke Mutter, die starb, als sie, Molly, neun war. Die Zeit danach in einem Mädchenwohnheim. Das ewige Nägelknabbern, das von dem Gefühl kam, ein Niemand zu sein. Und stets der Mann auf dem Foto, von dem sie denkt, er wäre immer für sie da gewesen, auch ohne Gegenleistung. Dann bestellt sie einen doppelten Pfefferminzlikör. Sie sagt, vielleicht hat sie von ihm, dem Erzeuger, den Hang zu Uniformen und Führernaturen. Prost! Sie kippt den Schnaps in einem Zug: Wer weiß, vielleicht lebt er noch und ist Millionär.

Sie kichert: „Agoho. A-go-ho – Mensch, Alkohol!“ Sie liebt diesen kumpelhaften Handschlag, der wie Armdrücken aussieht. Der erste Mann, von dem sie ihre beiden Kinder hat, Bäckergeselle, groß, mit sehnigen Unterarmen, hatte es tüchtig mit dem Suff. Molly schwört auf Alkohol. Er ist der Schlüssel, der sie öffnet: „Im Alkohol liegt Wahrheit.“ Sie lächelt und scheint in dem Satz zu baden wie einst Kleopatra in ihrer Eselsmilch. Rudolf, der zweite Mann, 15 Jahre älter als Molly. Ein Mann in Uniform, Sergeant bei den US-Besatzungstruppen. Einer, der wusste, was er wollte. Er trank nicht, aber er ließ sie trinken. „Als Rudi in mein Leben kam, ging die Sonne auf.“ Elegant, fürsorglich („Riesenfresspakete schleppte er an“). Molly schwebte, ließ sich scheiden, gab dem Ex-Mann den Sohn, behielt die Tochter. Heiratete das Idol. Ins Standesamt kam sie mit orange gefärbten Haaren.

Dreißig Jahre ist das her. Rudi, der Held. Rudi, das Schwein. „Er spielte den charming boy, weil er von Anfang an Christine wollte, meine Tochter.“ Ein Slip hier – Armwedeln: „mit Herzchen drauf, kein so’n Omaschlüpfer, ja, nich“ –, ein sexy T-Shirt da. Rudi brachte immer etwas mit für Christine, und sie, sechs Jahre alt, liebte ihn abgöttisch. Molly gibt zu, dass sie deswegen eifersüchtig auf das Kind war.

Der nächste Fudschi. Ein Drittel Weinbrand, zwei Drittel Cola. Sagt Molly. Sie stößt auf, behaglich. Zitiert einen Vers aus Schillers Glocke, stößt auf, sagt eye-catching und absent-minded und meint den Zustand der Welt. Strahlt dann wie die Morgensonne: Alles fit im Schritt? Alles clear my dear? Und, los, trinken Sie doch auch mal was! Plötzlich ist die Leere da. Plötzlich ist alles Tralala und Hihihi. Es kostet Zeit, sie zurückzuholen. Sie will gefallen. Sie flirtet. Der Gedanke, ein Außenseiter zu sein, macht sie panisch. Jeder soll sie mögen und kennen. Soll sagen: Ist das nicht Molly Luft? Wie reizend! Sie denkt: Wer mich sieht, wird mich mögen. Wird mich nie wieder vergessen. Also flirtet sie. Mit allem, was sie hat. In rosa Perücke und giftgrünem Talar, mit schwerem, tiefem Dekolleté, tritt sie in Diskotheken und bei Partys als busen- und hinternschleuderndes Unikum auf. Stellt ihr Gebrechen, die Fettleibigkeit, zur Schau. Lässt Gafferei, Zoten und Beschimpfungen über sich ergehen. Alles für die Eitelkeit?

Sie erzählt von ihrer Schüchternheit und kommt von dort wieder auf den Alkohol. Dass sie erschrickt bei obszönen Wörtern, dass sie es nicht ertragen kann, sie zu hören, sie musste sie im Bordell dreißig Jahre lang sagen und hören, und, ja, es ist wohl so, dass ich mich hinter meinem Auftreten verstecke wie hinter einer lachenden Maske. Dann sagt sie: „Sie schreiben mit? Gut.“ Sie rückt den Ascher beiseite. „Molly Luft ist mein Pseudonym, und dahinter stecke ich, Edda, geborene Blanck, verheiratete Kurtzer. Es muss sein. Jetzt.“ Vor allem bevor die Fudschis verfliegen. Sie schlägt die Hände vors Gesicht, unaffektiert: „Rudi ist der schwarze Punkt in meinem Leben.“

Molly hat mitgemacht. Sie hat nicht nur zugesehen. Sie hat mitgemacht. Sie hat dafür gebüßt. Sie weiß nicht mehr genau, wann das war. 82 oder 83. Sie müsste in den Unterlagen nachsehen. Im Urteil wegen Kindesmissbrauchs, den sie gemeinsam mit Rudi an der Tochter begangen hat. Beide bekamen sie eine dreijährige Freiheitsstrafe auf Bewährung. Sie sagt, sie weiß nicht, wo das Urteil ist, irgendwo ganz unten in einem Karton. Aber sie weiß, Christine war zwölf oder dreizehn. Und dann sagt sie noch, hoffentlich liest Christine das hier niemals. Sie selbst hat vor vierzig Jahren das letzte Mal ein Buch gelesen, „Angelique“ von Anne Golon. Ein Buch, das sie zu Tränen rührte. Sie sitzt da, in ihrer Kneipe, Mollys Kneipe, und während sie sagt, ihr Mann wollte Verkehr mit Christine, mit ihr, Molly, als Sekundantin, aber sie hätte es niemals zugelassen, zerhackt ihr rechter Unterarm die Luft: Niemals.

Topfpflanzen stehen auf Simsen, weiße Gardinen hängen vor den Fenstern, Kupferteller mit Jagdszenen am Deckenbalken. Im Radio läuft „Dancing Queen“ von Abba. Die Erinnerung an Bockwurst und Fassbrause an Familiensonntagnachmittagen kommt auf.

Es ist ein Uhr morgens; Molly hebt den Zeige- und den Mittelfinger, die Nägel sind purpurrot lackiert. „Nie wieder einen Mann!“, sagt sie plötzlich. „Ich schwöre!“ Ihre Gedanken springen häufig, aber sie sind klar, sie suchen jetzt nach einer Rechtfertigung für das, was nur schwer zu rechtfertigen ist.

Sie spricht von der „Diskrepanz der Entwicklung“ und der „Darstellung der Glaubwürdigkeit“ und hofft, dass man sie versteht. „Ich hoffe, Sie so zu erreichen, dass Sie mich verstehen.“ Sie hasst diesen gewissen Charme. Den, der nur den einen Zweck verfolgt. Sie sagt, fast alle Männer haben ihn. Sie will das nie mehr: erst die Geschenke, die Zärtlichkeit und dann die Drohung mit Entzug. Die materielle und emotionale Abhängigkeit. Sie will gefallen, ja, aber nicht mehr unter Zwang. Sie hat aufgehört, sich zu rasieren. Oben und unten.

Sie stand nachts mit Rudi am Bett der Tochter, weil er es so wollte, masturbierte ihn, bis er auf Christines Gesicht ejakulierte. Er hatte den Mittelfinger zwischen Christines Beinen. Molly sagt, es sei sehr schnell gegangen, kaum eine Minute, Christine habe nichts mitgekriegt, sie habe jedes Mal geschlafen. Aber dann, eine Stunde später, sagt sie, Christine habe sich immer öfter gewehrt, habe das Gesicht weggedreht und sei auch mit der Aussicht auf Geschenke nicht umzustimmen gewesen. Und eines Tages habe sich Christine dem Kindermädchen anvertraut.

Die Polizei kam, und Christine wurde für Jahre in ein Heim an der Ostsee geschickt, zusammen mit anderen „sozial Behinderten“, wie junge Menschen aus zerrütteten Elternhäusern damals genannt wurden. Molly findet den Begriff noch heute lustig.

Masturbieren, ejakulieren. Worte, die etwas beschreiben sollen, was man in diesem Fall mit Worten nicht beschreiben kann. Nicht beschreiben darf? Molly will es dennoch, sie will „Aufarbeitung“, in ihrer Sprache: „Langholz“ haben sie und ihr Mann über Christine gemacht. Mollys Rechte ist zu einem O geformt und gleitet auf und nieder. Das Wort und die Geste, flapsig und plastisch, zerstören die vertrauliche Atmosphäre augenblicklich. Beim Abschied wird sie fragen: Und – hat es Sie erregt, was ich Ihnen eben erzählt habe?

Sie öffnet die Hand, reckt den Mittelfinger: „Der Staatsanwalt hat behauptet, Christine ist von meinem Mann defloriert worden. Das stimmt nicht.“ Sie bewegt den Finger. „Der ist am längsten, aber nicht lang genug, um zu deflorieren. Sehen Sie?“ Defloriert, sagt sie und nicht: entjungfert, und stochert mit dem Finger in einer imaginären Körperöffnung herum. Ja, sie hat mitgemacht. Ja, sie verabscheut sich dafür. Zutiefst. Nein, sie weiß nicht, was sie empfunden hat dabei. Erst jetzt, nachdem sie das Bordell aufgegeben hat, habe sie Zeit, ihr Innerstes zu erforschen. Sie denkt an eigene Memoiren. An einen Autor, der sie für sie aufschreibt. „Hier!“ ruft sie in Richtung Tresen. „Noch einen für mich!“ Sie hält die Handflächen in reichlichem Abstand waagerecht übereinander. „Und wieder in so einem Glas!“ Graublaue Augen, ein üppig gelocktes Haarteil, und über die Brauen hat sie Striche gezogen; dick, schwarz und stark gebogen. Der Lidschatten ist türkis. Die Wimpern sind falsch; bürstenartig und glitzernd. Dazu eine weite geblümte, an den Seiten geschlitzte Bluse und schwarze Leggings. Wie ein barockes Schiff sieht Molly Luft aus.

Sie achtet darauf, wie ihre Worte wirken. Legt die Stirn in Falten, bekommt rote Flecken im Gesicht. Dass sie so offen ist, macht einen stumm und verlegen. Weil sie mit den Details kokettiert. Weil es erbarmungslos klingt, wenn sie sagt: „Ich habe nichts zu verbergen.“ Sie kann sich an Namen erinnern, an Straßen, an jedes Ereignis. Nur an ihre Gefühle nicht. Sie blickt auf die Seiten des Notizblocks und kommt zu dem Schluss, dass auch eine schlechte Presse eine gute ist. Gut, um im Gespräch zu bleiben.

Ganz zu Anfang, erzählt sie, bestellte sie die Freier noch zu sich in die Wohnung. Als die Tochter eines Nachmittags von der Schule heim kam, stand ein Fremder an der Tür. „Sie wollen wohl zu meiner Mutter?“ fragte Christine. Der Fremde nickte. „Ach, die fickt bestimmt gerade mit einem Freier herum“, sagte das siebenjährige Mädchen.

Ich bin Sternzeichen Fisch, sagt Molly Luft und streicht mit Daumen und Zeigefinger die Mundwinkel entlang. Ich mag Wasser. Und ältere Pärchen, die auf der Straße Händchen halten. Das Verliebtsein. Ohne die Angst vor dem Moment, in dem der Höhenflug zu Ende ist und der Streit beginnt, der Hass, die Niedertracht, die Eifersucht. Sie hat solche Träume. Ein gemeinsamer Lebensabend, gemeinsame Urlaube. Kinder, auf die die Eltern stolz sein können. Kinder, die bereits aus dem Haus sind und selbst Kinder erziehen.

Wieder haben ihre Gedanken einen Sprung gemacht, den wer-weiß-wievielten in dieser Nacht. Vielleicht fehlt ihr nur ein vertrauter Mensch. Einer, mit dem sie reden kann. Der mit ihrer Angewohnheit, endlose Monologe zu führen, umgehen kann. Der ihre Art ignoriert, jeden, der in ihren Kreis gerät, auszunutzen und zu manipulieren. Aber gäbe es so einen, wie lange bliebe der wohl bei ihr? Sie beugt sich zu Kessy hinunter, der neunjährigen Schäferhündin, die daliegt und döst, hebt ihren Kopf an und schaut in das Hundegesicht.

Molly Luft, die Täterin. Die Abende, an denen sie mit Rudi vor dem Fernseher saß und Asti Spumante trank. Ihr Lieblingssekt. Süßer Sekt. Bis zu drei Flaschen pro Abend. Die Tochter bekam davon ab, wenn sie bereit war, sich mit auf die Couch zu setzen und Pornofilme zu gucken. Und lag sie dann mit Alkohol im Blut und den Videobildern im Kopf im Bett, kamen die Mutter und der Mann, den sie Papi nannte.

Molly besteht darauf, eine gute Mutter gewesen zu sein. Dass sie Christine stets pünktlich ins Bett geschickt hat. „Alles, was mit un- zu tun hat, kann ich nicht leiden: unkorrekt, unpünktlich, unsauber.“ Dreimal hackt der Unterarm zu. Sie hält es sich zugute, dass dem Kind im Vergleich mit anderen Fällen wenig passiert ist. Aber dann fängt sie sich und bittet um Verzeihung.

Sie sagt, es war die Unlust, sich dem Willen Rudis zu widersetzen – und das Kalkül, seine Gunst nicht aufs Spiel zu setzen. Sie wollte Christine dadurch als Konkurrentin ausschalten, dass sie sie ihrem Mann preisgab. Als die Polizei dann kam, sagt sie, sei sie froh gewesen, dass es vorbei war: „Im Grunde waren wir doch beide Opfer, Christine und ich, nicht wahr?“, und ihre Stimme fleht. Wahrscheinlich ist es so. Es fällt schwer, der Versuchung zu widerstehen, nicht mehr Chronist zu sein, sondern Richter.

Ob Christine ein Trauma zurückbehalten hat? Molly verneint. Sie senkt die Stimme, bis sie so klingt, als ob sich nunmehr alles wie von selbst verstünde. „Ich sag Ihnen was: Ich habe es von Anfang an gewusst. Kinder von Prostituierten oder missbrauchte Kinder werden Prostituierte. Das ist wie eine Gesetzmäßigkeit.“ Sie sagt es und tippt mit den Zeigefingern links und rechts an die Schläfe. Und man fragt sich, ob es gut ist, in solche Abgründe zu schauen, und antwortet, ja.

Die Tochter bekam im bürgerlichen Leben keinen Boden unter den Füßen. Und landete schließlich als Hure in Mollys Bordell. Nach dem Heim schaffte Christine die Lehre als Bürokauffrau nicht. Heiratete einen Mann, der auch als „sozial behindert“ galt. Die Ehe scheiterte, die nächste auch. Das erste Kind starb den plötzlichen Kindstod, das zweite, ein Junge, ist jetzt neun Jahre alt.

Christine, ohne inneren und äußeren Halt, bat vor zwei Jahren die Mutter um Hilfe. Sie brauchte Geld, eine Wohnung. Molly „half“, indem sie sie in ihrem Bordell arbeiten und wohnen ließ. Und gab sie zum zweiten Mal preis. Nicht einem bestimmten Mann. Allen Männern, die bereit waren, dafür zu zahlen. „Hallo, ich bin Molly Lufts Tochter“, stellte sich Christine den Freiern vor. Abends schlief sie dann mit dem Sohn in einem der Betten, auf dem zuvor an die zwei Dutzend Männer mit einer Frau zusammengewesen waren. „Du siehst nicht aus wie eine Hure, du fühlst nicht wie eine Hure, du denkst nicht wie eine Hure.“ Mit dieser Begründung setzte Molly die Tochter samt Sohn nach wenigen Monaten vor die Tür. „Du bist nicht wie ich.“ Christine habe keinen Umsatz gebracht, habe sich ungeschickt angestellt, wie sie rumlief, mit Rundrücken und vorgeschobenem Kopf. Molly hat von ihrer Tochter, die jetzt 35 ist, seither nichts mehr gehört, vermutet aber, dass sie in einem anderen Bordell arbeitet. Ob Molly eine Ahnung davon hat, was sie ihrer Tochter angetan hat? Noch einmal holt sie weit aus. Sie will sich rächen. An beiden, an Rudi und an Christine. Schuld abwälzen will sie nicht.

Rudi, der sie, Molly, in die Prostitution getrieben habe, weil er geldgierig war. Christine, die ihrer Meinung nach dasselbe war. Molly redet von monatlichen Schecks an die Tochter und an Michael, den Sohn, und dabei fällt ihr auf, dass sie ihn seit dreißig Jahren nicht gesehen hat, er ist fast vierzig und schwarz gekleidet, bleiches Gesicht, verlorener Blick, sie weiß es von ihrem ersten Mann und hat im Fernsehen einen Bericht über Grufties gesehen und wie nihilistisch sie sind. „Dass er so ist, das ist meine Schuld“, sagt sie, und ihre Augen sind rot gerändert. Wie vorhin, als sie ihren Vater erwähnte. Mollys Männer.

Von Rudi lebt sie seit „der Sache damals“ getrennt. Ihre Memoiren sollen mehrere Teile haben. Erster Teil: Mein Leben mit Rudi. Daran schreibt sie gerade. Sie kippt den Kopf nach rechts, und die Finger greifen in die Tischdecke: „Er hat Christine immer geliebt und gehofft, dass sie irgendwann zu ihm kommt.“

Zu Beginn des Interviews sagte sie, sie wolle einen Albtraum loswerden. Jetzt, am Schluss, ist es so, als ob sie die Tochter ein drittes Mal preisgegeben hätte. Diesmal nicht dem Ehemann oder den Freiern. Diesmal der Öffentlichkeit. Molly blickt zu Boden. Das macht sie, wenn ihr die Worte fehlen. Das kommt selten vor. Dann fällt ihr ein geläufiges ein: „Ist alles Business.“ Sie möchte so gern wieder in eine Talk-show. Viermal ist sie bei Lilo Wanders in „Wa(h)re Liebe“ zu Gast gewesen. Mollys Augen sind auch nach dem sechsten Fudschi nicht glasig. Es ist, als wollten sie einem sagen, komm mir bloß nicht moralisch. Bloß nicht, du.

Sie geht schwimmen, geht ins Fitnessstudio. Muskelaufbautraining. Sie macht es vor. „Einmal so und einmal so.“ Sie ist vom Tisch weggerückt und schleudert die Fäuste abwechselnd waagerecht von sich. Dann macht sie dasselbe mit den Füßen, strampelt wie ein Käfer, der auf dem Rücken liegt. „Vor und zurück.“ Der Atem pfeift. „Immer wieder: So! So! So! Puuuh!“ Wenn sie es so macht, geht es. Sie hat Schmerzen im Kreuz, sie ist krank, die Stufen hinauf zu ihrer Wohnung im ersten Stock und das Aufstehen morgens machen ihr Mühe, große Mühe. Sie muss abnehmen, 100 Pfund, sie muss operiert werden, die Bandscheiben sind kaputt. Die Blutwerte sind gut. Molly Luft lässt sie regelmäßig vom Hausarzt überprüfen. Sie hofft so sehr auf das Buch. Hofft, dass sie bald wieder gesund sein wird, und darauf, dass jeder sie versteht.

THOMAS FEIX, 45, ist freier Autor, ANJA WEBER, seit heute 37, ist freie Fotografin. Beide leben in Berlin