Straßburg setzt auf türkischen Rechtsstaat

MENSCHENRECHTE Opfer von Verfolgung müssen sich zunächst an türkische Kommissionen wenden

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg Foto: reuters

FREIBURG taz | Entschieden wurde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg die Beschwerde des türkischen Lehrers Gökhan Köksal, der an einer Grundschule in der osttürkischen Großstadt Erzurum unterrichtete. Nach dem Putschversuch vom Juli 2016, für den die Türkei den in den USA lebenden Prediger Fetullah Gülen verantwortlich macht, wurde Köksal Anfang September per Regierungsdekret entlassen – gemeinsam mit rund 50.000 anderen Beamten, denen der Staat Verbindungen zu terroristischen Organisationen vorwarf.

Gegen diese Massenentlassungen war nach türkischem Recht zunächst kein Rechtsmittel vorgesehen. Köksal klagte deshalb Ende September gleich beim türkischen Verfassungsgericht, das aber noch nicht entschieden hat. Dort sind 60.000 ähnliche Klagen anhängig.

Im November 2016 erhob der Lehrer zudem Beschwerde beim EGMR in Straßburg. Der Menschenrechtsgerichtshof wies die Beschwerde nun aber einstimmig als „unzulässig“ zurück. Die Entscheidung wurde von einer mit sieben Richtern besetzten Kammer unter Vorsitz des Isländers Robert Spano getroffen. Begründung: Der türkische Lehrer habe noch nicht den Rechtsweg in der Türkei erschöpft.

Dabei stellte der EGMR auf das von der türkischen Regierung erst im Januar 2017 beschlossene Dekret 685 ab, mit dem eine siebenköpfige Untersuchungskommission eingerichtet wurde. Diese Kommission soll künftig individuelle Beschwerden gegen Maßnahmen prüfen, die nach dem Putschversuch per Regierungsdekret ergingen. Damit sei nun ein klar definierter innerstaatlicher Rechtsweg gegeben, so die Straßburger Richter.

Denn gegen Entscheidungen der Untersuchungskommission könnten die Betroffenen bei türkischen Verwaltungsgerichten klagen und – wenn das erfolglos bleibt – auch beim türkischen Verfassungsgericht. Nur wenn sich die nationalen Klagemöglichkeiten als ineffizient oder voreingenommen herausstellen, komme auch eine direkte Klage in Straßburg in Betracht. In Straßburg waren bis Ende Mai bereits mehr als 17.000 Beschwerden im Zusammenhang mit Maßnahmen nach dem Putschversuch eingegangen. Ein Urteil hat es bisher aber noch nicht gegeben. Bereits im November 2016 hatte der Gerichtshof im Fall einer inhaftierten türkischen Richterin entschieden, dass sie zunächst das türkische Verfassungsgericht anrufen müsse.

In Straßburg waren 17.000 Beschwerden nach dem Putschversuch eingegangen

Auch der deutsche Journalist Deniz Yücel, der seit Februar in türkischer Untersuchungshaft sitzt, hat sich direkt an den Straßburger Gerichtshof gewandt. Die Entscheidung dürfte auf seinen Fall aber nicht zutreffen, da seine U-Haft nicht per Regierungsdekret angeordnet wurde. Christian Rath