„Die Bürger haben sich emanzipiert“

Die Wähler haben gegen das neoliberale Trio Merkel-Westerwelle-Kirchhof entschieden. Nun muss die SPD national und auf europäischer Ebene für soziale Gerechtigkeit eintreten – zur Not auch in einer Minderheitsregierung

taz: Für die Wähler der Grünen, der Linken und der SPD war soziale Gerechtigkeit ein entscheidendes Thema. Was heißt das nun für die Sozialdemokraten?

Erhard Eppler: Die Wähler haben letztlich gegen ein neoliberales Deutschland gestimmt, das von dem Trio Merkel, Westerwelle, Kirchhof geführt wird. Nur: Die Politik, die sich viele von der SPD erwarten und erhoffen, lässt sich gar nicht realisieren in einem Nationalstaat, der sich gegenüber einem global agierenden Kapital behaupten muss. Der Nationalstaat ist zum Standort degradiert und erpressbar geworden. Daher muss sich die SPD vor allem um Europa kümmern und um engere Kontakte zu anderen sozialdemokratischen Parteien in Europa.

Was müsste eine neue Regierung denn als Erstes tun?

National müssen wir uns darauf verständigen, dass die progressive Einkommensteuer, die in Deutschland seit 110 Jahren unangefochten war, auch künftig bleiben wird. Jedes andere System, etwa die Einheitssteuer, führt zur Aushungerung des Staates. Sie ist für die kleinen Leute sehr hoch, sodass sie also nur gesenkt und nicht angehoben werden kann. Die großen Einkommensempfänger hingegen amüsieren sich. Ein weiterer Konsens wäre bei der Alterssicherung nötig, die auch künftig auf zwei Säulen aufgebaut werden muss: der solidarischen Rentenversicherung und einer privaten Zusatzversicherung.

Was ließe sich nur noch auf europäischer Ebene durchsetzen?

Die Nationalstaaten sind in einen Wettbewerb gezwungen worden um die niedrigsten Unternehmensteuern und Spitzensteuersätze – das lässt sich nur durch Mindeststeuern in Europa reparieren. Ganz wichtig scheint mir eine deutsche Initiative für solche Mindeststeuern auf Unternehmen und hohe Einkommen in der EU. Auch wenn es schwierig wird, das im Europäischen Rat durchzusetzen, ist ein Versuch dringend angezeigt.

In Europa wird ja gern das skandinavische Modell gelobt. Die BürgerInnen sind bereit, für weitreichende soziale Sicherungen relativ hohe Steuern zu zahlen. Ist das ein geeignetes Vorbild?

In Skandinavien gibt es eine klare Trennung von privatem Einkommen und Unternehmensgewinnen. Die Unternehmen werden sehr viel geringer besteuert. Über diese Trennung kann man sehr wohl nachdenken. Dass die Unionsparteien hier mitmachen, scheint mir aber nicht wahrscheinlich.

Ist die große Koalition angesichts der großen Probleme die beste Lösung?

Als die letzte große Koalition 1966 begann, war der Wahlkampf vom Jahr zuvor vergessen. CDU/CSU und SPD bildeten sie nicht aufgrund der Wahlprogramme, sondern weil sie die gemeinsame Aufgabe sahen, eine anrollende Wirtschaftskrise zu bewältigen. Darüber haben sich Franz Josef Strauß und Karl Schiller rasch geeinigt. Zudem die Union eindeutig die stärkste Partei war: Die Frage, wer den Kanzler stellt, stand nicht zur Debatte. Der Einstieg in die große Koalition war also unendlich viel leichter, als er es heute wäre. Jetzt stehen sich der Machtanspruch und die Konzepte zweier annähernd gleich starker Parteien gegenüber, die nicht so schnell zu versöhnen sind.

Rot-Schwarz ist gänzlich chancenlos?

Es ist viel schwerer, ein gemeinsames Programm zu entwickeln als damals. Sogar wenn dies gelingt, wird eine große Koalition die Erwartungen nicht erfüllen können, die viele in sie setzen. Erfolgreiche nationale Konjunkturpolitik wie 1966 bis 1969 ist nicht mehr möglich.

Ist eine Minderheitsregierung von CDU-CSU-FDP denkbar?

Wenn man die Verfassung ernst nimmt, sieht es nicht nach einer Kanzlerin Angela Merkel aus. Da sie im ersten Wahlgang keine absolute Mehrheit bekommen dürfte, müsste sie in einem zweiten Wahlgang mit einem Gegenkandidaten rechnen. Dann könnte sich zeigen, dass es im Parlament eine linke Mehrheit für einen sozialdemokratischen Kanzler gibt.

Das wäre für Sie eine akzeptable Lösung?

Akzeptabel – im Vergleich zu anderen Lösungen. Letztlich kommt es auf die Politik einer Minderheitsregierung an. Natürlich muss sie versuchen Projekte durchzusetzen, die im Parlament eine große Mehrheit finden, Projekte, die auch in der Opposition Diskussionen auslösen. Hier könnte Skandinavien Vorbild sein.

Wie kann eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung den wirtschaftlichen Aufschwung erreichen, den sie vor der Wahl nicht schaffen konnte?

Das ist auch eine Frage der Stimmung. Und die wird ja nicht nur von der Politik, sondern auch von den Medien bestimmt. Ich könnte mir vorstellen, dass diejenigen, die Rot-Grün wegreden oder wegschreiben wollten, sich jetzt etwas mehr zurückhalten – und somit sich auch die Stimmung bessert. Zudem emanzipieren sich die Bürger von ihren Medien. Dies hat das unerwartete Wahlergebnis gezeigt. Die Deutschen halten von den Medien auch nicht mehr als von den Politikern. Das finde ich positiv.

INTERVIEW: DANIEL HAUFLER