Das Protokoll einer Zerstörung

Für viele Menschen ist Stalking ein Fremdwort. Für den Bruder der ermordeten Corinna M. ist es blanker Terror. Vor Gericht sagt er gegen den wegen Mordes angeklagten Schwager aus, wie dieser seine ehemalige Partnerin schon psychisch zerstörte, bevor er sie auch physisch vernichtete

aus Bremen Eva Rhode

„1993 haben Michael M. und meine Schwester geheiratet“, erzählt Frank N. Zwölf Jahre später ist seine Schwester tot, Michael M. hat die 39-Jährige umgebracht, von hinten erstochen, so rekonstruiert es das Bremer Landgericht, vor dem der Mordprozess heute weiter verhandelt wird. Vergangene Woche berichtete Frank N., was der Tat am 7. März 2005 auf der Arbeitsstelle seiner Schwester im Bremer Maritim-Hotel voraus ging, wie sein Schwager Corinna M. schon psychisch zerstört hatte, bevor er sie auch physisch vernichtete. Weil er nicht akzeptieren konnte, dass sie ihn mit den beiden gemeinsamen Kindern verlassen hatte.

Nach der Trennung verfolgt Michael M. die Ex-Partnerin, terrorisiert sie am Telefon, dringt in ihre Wohnung ein, macht ihr und den Kindern das Leben zu Hölle. Alles nur, weil er sie wiederhaben will, eine Begründung, die viele Stalker – so der Fachausdruck – anführen. „Stalking hat nichts mit Liebe zu tun. Im Gegenteil: Es geht um Aufmerksamkeit, Kontrolle und Macht“, heißt es auf einer Internet-Seite, die Stalking-Opfer berät. Corinna M. wird das gewusst haben. Gebracht hat es ihr nichts.

„Vergangenen Oktober hat mein Schwager schon gesagt, es wäre besser, wenn Corinna nicht mehr leben würde. Ich habe erst später davon erfahren“, erzählt der Bruder in seiner Zeugenaussage. Zwei Monate später schleicht sich Michael M. in ihre Wohnung, drängt sie in eine Ecke und legt ihr die Hände um den Hals. „Corinna hat von unglaublich hasserfüllten Augen gesprochen. Er hat ihr gesagt ‚Jetzt hast du Angst, wie ich bis jetzt Angst hatte‘“, berichtet der Bruder. Die Polizei schreitet ein. Im Januar – Michael M. ist gerade von der psychiatrischen Akutstation entlassen – lauert er ihr wieder auf. „Er sprang hinter einem Auto hervor und zerrte sie an den Haaren über Wiesen ins Gebüsch“, erzählt Frank N., was ihm seine Schwester berichtet hatte. Verwandte finden ihre Handtasche am Boden. Als die Polizei endlich kommt, sitzt der Täter in der Wohnung des Opfers. „Meiner Schwester war es gelungen, die Nerven zu behalten und irgendwie den Schalter umzulegen. Sie hat ihn zu einem Gespräch bewegt“, sagt der Bruder. „Sie hatte wahnsinnige Angst.“

Er bekommt alles heraus

Schließlich zieht die Mutter von Corinna M. bei ihr ein. „Wir haben auch über Bodyguards nachgedacht“, sagt der Bruder. „Aber die konnten wir nicht bezahlen.“ Bitter schiebt er hinterher: „Aus heutiger Sicht wäre damit auch nichts gewonnen. Corinna hätte den Leibwächter dankend vorm Hotel entlassen und wäre dann zu ihrem Arbeitsplatz gegangen.“ Freunde und Nachbarn sind alarmiert, sie warnen vor Gefahr, holen die Polizei. „Meine Schwester hatte überlegt, aus Etelsen weg zu ziehen. Sie wollte den Leuten dort nicht länger zur Last fallen“, erzählt der 38-Jährige. Die Wohnung hatte sie längst gewechselt, sich eine neue Telefonnummer zugelegt. Es hilft nichts. Michael M. verschafft sich als Paketzusteller Zutritt in das Haus, die Geheimnummer bekommt er von der Telekom – als offizieller Ehemann und somit Mitinhaber des alten Telefonanschlusses. Sogar die Adresse des Verdener Frauenhauses, die Corinna M. zu Hause aufbewahrt, findet man später bei dem 41-Jährigen. Der Bruder vermutet, sein Schwager hat sie bei einem Einbruch in die Wohnung an sich genommen. Durch das Dachzimmer im Kinderzimmer steigt er ein, nötigt Corinna M. und die weinenden Kinder aufs Sofa, zwingt sie, seinen Litaneien vom gemeinsamen Leben zuzuhören. „Er blieb die ganze Nacht und durchsuchte alles. Sogar das Altpapier“, gibt Frank N. wieder, was die Schwester ihm anvertraut hatte.

„Corinna wusste, was geschehen würde. Er wird mich umbringen, hat sie bitterlich geweint und gesagt, dass sie nicht verstehen kann, warum.“ Dem Bruder zittert beim Weitererzählen die Stimme. „Wir waren an einem Wochenende in ein Hotel an der Ostseeküste gefahren, um Abstand zu gewinnen. Meine Schwester brach am Sonntag beim Frühstück weinend zusammen.“ Eigentlich hatten die Schwester und ihre Kinder, und er selbst, mit Frau und seinen beiden Kindern, an anderes denken wollen. „Aber dann kam dieser Anruf von der Hotelrezeption. Die waren zwar eingeweiht. Aber sie haben uns Mitteilung vom Anruf eines Mannes gemacht.“ Dabei hatten sie extra umgebucht, wegen des Einbruchs. Doch Michael M. hatte auch die neuen Pläne heraus bekommen. Der Terror gewann wieder Oberhand.

Sie ist am Ende

„Damit Sie sich vorstellen können wie das war“, sagt der Bruder, der der Schwurkammer vorher das Foto von einer lachenden Frau überreicht hatte, „meine lebensfrohe Schwester zog im sechsten Stock des Hotels die Vorhänge zu. Sie verbot den Kindern, ans Fenster zu gehen. Sie war körperlich und seelisch am Ende. Man konnte sie nicht mehr umarmen, sie ließ niemanden mehr an sich heran.“

Ihr Verfolger sagt vor Gericht aus, er habe Frau und Kinder zurück haben, Geborgenheit und Zärtlichkeit wieder herstellen wollen. Dass er nur noch um sich selbst kreiste, nahm er nicht wahr, seine einträgliche Arbeitsstelle bei einer Reederei hatte er längst verloren. Auch den Vorschlag von Corinna M., psychologische Beratung zu suchen, missachtet er. Vor Gericht schildert der Bruder, welchen Terror Corinna M. ausstehen musste.

„Es war der 29. Januar. Die Kinder waren bei meinem Schwager. Trotzdem rief er alle zehn Minuten an. Bis spät nachts. 50-mal. Jeder von Ihnen würde denken, da muss man das Handy ausschalten. Jeder, der Kinder hat weiß, dass man das nicht einfach tun kann.“ Dann hält er eine Telefonliste hoch. „Ich habe die Telefonanrufe bei meiner Schwester ausgewertet“, sagt er. „Die Anrufe kamen oft bis spät in die Nacht. Das hatte nichts mit den Kindern zu tun. Die haben geschlafen.“ Und dann: „Er behauptet, meine Schwester habe ihn abgewiesen. Die Auswertung ergibt etwas anderes. Sie hat mit ihm geredet. 34 Minuten. 42 Minuten. 20 Minuten. 78 Minuten.“ Der weinerliche Angeklagte sinkt in sich zusammen.

Es gibt kein Entkommen

Doch trotz all der deutlichen Zeichen gibt es kein Entkommen für Corinna M. Nicht einmal das Kontaktverbot, das ein Verdener Familienrichter verhängt hat, um sie zu schützen, hilft ihr etwas. Der Grund: Derselbe Richter räumt dem Vater ein Umgangsrecht für Tochter und Sohn, fünf und acht Jahre alt, ein. Im Landgericht kann das niemand verstehen.

Bereits am Tag der Entscheidung des Richters, wonach der Ehemann mindestens 50 Meter Abstand zum Opfer halten musste, habe Michael M. gegen die Auflage verstoßen, sagt Frank N. „Er muss das Treffen gesucht haben. Meine Schwester berichtete mir, wie er plötzlich vor ihr stand und sie anschrie. Wie ihr Freund heiße, wollte er wissen“, sagt der Bruder. „Absurd.

Am Wochenende vor dem tödlichen Messerangriff hatte Frank N. die weinenden Kinder dem Schwager in Hamburg überbracht. „Per Gerichtsbeschluss musste ich diese verzweifelten Kinder abgeben“, sagt er mit schwankender Stimme. „Aber ich hatte Michael M. am Vormittag getroffen. Ich wollte einen Eindruck von ihm gewinnen. Ich habe an sein Verantwortungsbewusstsein appelliert und gesagt, dass das eine Chance ist, die Beziehung zu seinen Kindern auf eine neue Basis zu stellen. Er hat sich verständig gezeigt. Wenn ich Zweifel gehabt hätte, hätte er die Kinder von mir nicht bekommen. Aber mein Schwager war ganz klar. Glasklar“, betont er. „Sonst hätte ich ihm die Kinder nicht gegeben.“ Dennoch wurde das Wochenende schlimm. Die Kinder rufen ihren Onkel noch am selben Abend hilflos an. Man verabredet einen gemeinsamen Besuch am nächsten Tag im Hamburger Hafen.

Die Kinder haben Angst

„Er kümmerte sich gar nicht um die Kinder“, beobachtet der Bruder dort. Aber abends geht man auseinander, der Vater wollte mit den Kindern noch ins Musical. „Und als ich die beiden am Sonntag abholte, verabschiedeten Vater und Kinder sich, das räume ich ein, ganz liebevoll“, sagt Frank N. „Aber kaum saßen die Kinder im Wagen, hat Max aus dem Rückfenster geschaut. ‚Wenn wir jetzt nicht nett gewesen wären, würde er uns verfolgen‘, hat er gesagt. Dann sprudelten beide Kinder. ‚Der Papa hat eine Müslischale an die Wand geworfen.‘ Bei einer Autofahrt hat er gesagt, wir fahren gegen einen Baum, dann sind wir alle tot.‘ Corinna M.s Sohn berichtet: ‚Papa hat mir den Hals zugedrückt, bis ich keine Luft bekam‘. Ich habe sofort angehalten und beide Kinder in den Arm genommen“, sagt der Onkel. Anschließend fährt er Nichte und Neffen zum Hamburger Bahnhof, wo die Mutter wartet. In Bremen erleidet die Frau eine Panikattacke. Sie hat ihren Verfolger draußen auf dem Bahnsteig gesehen. Zur Sicherheit holt ein Polizist sie im niedersächsischen Etelsen am Bahnhof ab. Es ist das letzte Mal, dass der Bruder seine Schwester lebend gesehen hat.

Die Tat selbst geschieht nur vier Tage nach dem gerichtlich verhängten Umgangsverbot. Noch an diesem Tag hatte der Mann, der im Prozess sagt, er könne sich an die Bluttat nicht direkt erinnern, ein Messer gekauft – die spätere Tatwaffe. Auch die Kinder darf er noch sehen – und künftig alle zwei Wochen. „Für mich war das kein Gewinn“, sagt der Angeklagte dazu vor Gericht. Er wollte seine Frau zurück. Die Aufenthaltsorte der beiden Kinder, die getrennt wurden, hält man bis heute vor ihm geheim.