Der Rebell aus dem Norden

Der ehemalige Bürgerkriegskommandeur ist seit fünf Jahren Gouverneur von Balch. Seine Absetzung könnte die Provinz destabilisieren

Das Büro des Gouverneurs sieht aus wie die Disneyversion eines Königssaals

AUS MASAR-I-SCHARIF SIMONE WAGNER

Gemessen an der Zahl der Karsai-Poster ist der Einfluss der Kabuler Zentralregierung in Masar-i-Scharif äußerst gering. Ein einsames Porträt des umstrittenen Wahlsiegers findet sich noch im Zentrum der Hauptstadt der nordafghanischen Provinz Balch. „Unsere Plakate wurden abgerissen“, sagt Hamid Karsais lokaler Wahlkampfmanager, Sardar Mohammad Saidi. „Die Provinzregierung hat nichts dagegen unternommen.“

Die Plakate des Herausforderers Abdullah Abdullah hängen dagegen auch eine Woche nach dem Ende der Präsidentschaftswahl noch an jeder Straßenkreuzung. Und neben ihm auf den Bildern ist ein gütig lächelnder Gouverneur Atta Mohammed Nur zu sehen. Kein anderer prominenter Politiker hat die Kandidatur Abdullahs so offensiv unterstützt wie er. Der rebellische Gouverneur von Balch hat sich offen gegen seinen Dienstherrn Karsai gestellt, der ihn theoretisch jederzeit abberufen kann. Ob er dies tut, wird viel darüber aussagen, wie es um die Autorität des alten neuen Präsidenten im Norden bestellt ist.

Warlord in Lackschuhen

Vor Attas Residenz sind am frühen Morgen schon mehrere Delegationen aus den Distrikten versammelt, alte Männer mit Turbanen und bunten Mänteln, die dem Gouverneur ihre Probleme vortragen wollen: lokale Streitigkeiten, einsickernde Taliban oder fehlende Schulen. Attas Büro sieht aus wie die Disneyversion eines Königssaals. Mit goldenen Kronleuchtern, einer beleuchteten Weltkugel, Landschaftsgemälden und zwei thronartigen Seidenstühlen am Ende des Raumes. Der ehemalige Warlord trägt inzwischen Lackschuhe und gibt sich demokratisch. „Karsai hat die Stimmen der Bürger gestohlen. Er ist kein legitimer Präsident“, sagt Atta und zählt alle Übel der Regierung Karsai auf: Die Drogenmafia, die Verschwendung von Hilfsgeldern, die Korruption. „Wir haben Angst, dass sich die Welt enttäuscht von Afghanistan abwenden wird.“

In den vergangenen Wochen hatte Atta vor allem mit kaum verdeckten Drohungen auf sich aufmerksam gemacht. Sollte Karsai sich unrechtmäßig zum Sieger erklären, könne es gewaltsame Demonstrationen geben, hatte er erklärt. Deshalb schaltete das afghanische Fernsehen auch gleich nach Balch, nachdem die umstrittene Wahlkommission den Amtsinhaber vor einer Woche zum neuen Präsidenten ausgerufen hatte.

Doch nichts geschah. Die Lage blieb ruhig. Möglicherweise hat auch die Schweinegrippe dazu beigetragen, die am Hindukusch „politische Grippe“ genannt wird. Denn das Virus diente der Regierung als Grund, um Schulen und Universitäten kurzerhand zu schließen. Damit war einiges an Protestpotenzial gebannt.

Trotz aller Kritik an Karsai hat sich der Gouverneur noch nicht festgelegt. „Ich werde vielleicht nicht mit ihm zusammenarbeiten, weil er nicht gut für Afghanistan ist“, sagt Atta und hantiert mit seinem feinen chinesischen Teeservice.

Am meisten hat sich der Rebell aus dem Norden mit Innenminister Hanif Atmar, einem engen Vertrauten Karsais, angelegt. „Ein Gouverneur Atta ist kein Restaurantarbeiter“, sagte der Warlord jüngst in einer Wahlkampfrede in Anspielung auf die Zeit des Ministers als Migrant im britischen Exil. Nun wirft er Atmar vor, die Sicherheitslage in der bislang als ruhig geltenden Provinz Balch destabilisieren zu wollen. „Mit Hilfe des Innenministeriums wurden Waffen in den Distrikten Chimtal, Balch und Charbulak ausgeteilt“, behauptet Atta. Damit spielt er die ethnische Karte aus, denn es handelt sich um die von Paschtunen besiedelten Gebiete der mehrheitlich tadschikischen Provinz.

„Schulen abgebrannt“

Im Teehaus von Balch ist derweil eine andere Geschichte zu hören. „Der Gouverneur hat unseren Distrikt in den Medien als gefährliches Talibangebiet verunglimpft, weil wir Karsai gewählt haben“, sagt der 28-jährige Ladenbesitzer Nadir, der mit sechs anderen Männern auf dem Holzboden des Cafés vor einer grünen Blumentapete hockt. Jeder hier wisse, was der Gegenkandidat Abdullah getan habe. Die anderen Gäste nicken. „Er hat Schulen abgebrannt, er hat den Krieg gebracht“, sagt der Mann. Wie viele Paschtunen im Land wirft Nadir dem Herausforderer vor, während des Bürgerkriegs ein enger Vertrauter des Tadschikenführers Ahmad Schah Massud gewesen zu sein – in den Augen vieler Tadschiken ist genau das seine stärkste Referenz. Und warum hat Nadir den Amtsinhaber gewählt? Er deutet durch die offene Tür auf die asphaltierte Straße. „Vorher war hier nur eine Staubpiste. Jedes Mal, wenn man Zigaretten kaufen wollte, musste man anschließend duschen gehen.“ Die Schulen in der Gegend seien von der Zentralregierung und nicht vom Gouverneur gebaut worden, denn der interessiere sich nur für die tadschikischen Siedlungsgebiete, sagt Nadir. Nun mischt sein Nachbar sich ein, hebt beschwörend den Finger: „Wir haben für Frieden gewählt, mehr wollen wir nicht“, sagt er. Gewaltsame Demonstrationen fürchtet keiner der Teehausgäste. „Abdullahs Anhänger sind satt“, sagt der Mann mit dem erhobenen Zeigefinger. „Sie haben während des Wahlkampfs genug Geld verdient.“

Zurück in Masar-i-Scharif fordert Karsais Wahlkampfmanager Saidi die Absetzung des Gouverneurs. „Er war länger im Amt als jeder andere Provinzchef. Eine Veränderung wäre gut.“ Der kleine Mann mit den mongolischen Gesichtszügen erinnert an den Journalisten Said Parwes Kambachsch, der von einem Gericht in Balch zum Tode verurteilt worden war, weil er einen islamkritischen Artikel aus dem Internet heruntergeladen und verteilt hatte. Inzwischen ist Kambachsch begnadigt worden und ins westliche Ausland geflüchtet. Viele Beobachter gehen davon aus, dass der Prozess politisch motiviert war. „Es gibt keine Freiheit in Balch“, sagt Saidi.

Tatsächlich fangen die Leute in Masar-i-Scharif an zu flüstern, wenn sie über ihren Gouverneur sprechen. Zum Beispiel ein Waschmaschinenverkäufer in der Nähe der blauen Moschee, dem Wahrzeichen der Stadt. „Wenn er abgesetzt wird“, flüstert der Mann, der Angst hat, seinen Namen zu nennen, „dann droht Gewalt, weil er viele Rivalen hat.“ Allen voran den skrupellosen Usbekengeneral Raschid Dostum und den Hasara-Warlord Mohammad Mohaqeq, die bei der Wahl beide Karsai unterstützt haben und zu gerne ihren Einfluss Richtung Balch ausdehnen würden. Umgekehrt hat Atta gerade in Dostums Heimatprovinz Dschusdschan eine Privatschule für Mädchen gebaut und plant als nächstes ein Jugend- und Gemeindezentrum. Die Rolle als Mäzen ist Teil seiner Expansionspolitik, doch vor allem fußt seine Macht auf Waffengewalt.

Der ehemalige Bürgerkriegskommandeur hat in seinen fünf Jahren als Gouverneur viele seiner Kampfgefährten von damals in der Polizei untergebracht. Im Fall seiner Absetzung dürften sie alles daran setzen, die Provinz zu destabilisieren. Das wären auch schlechte Nachrichten für die in Masar-i-Scharif stationierten Bundeswehrsoldaten und die deutschen Polizisten, die in den Distrikten von Balch afghanische Kollegen ausbilden. Bislang allerdings haben Attas Männer dazu beigetragen, dass Balch noch immer eine Insel der Stabilität im unruhiger werdenden Norden ist. Der Gouverneur gilt als guter Manager, der den Aufstieg Balchs zur wirtschaftlich erfolgreichsten Provinz des Landes befördert hat. Überall in der Stadt wird gebaut, auf dem Markt drängeln sich die Händler, in den Straßen staut sich der Verkehr. Deshalb hat der gewandelte Mudschahed mit den Designeranzügen viele Anhänger, auch wenn er am Aufschwung über eigene Bau- und Handelsfirmen selbst kräftig mitverdient hat.

Atta ignorierte Kabul

Eigentlich hat Präsident Karsai Atta längst seines Amtes enthoben, nachdem sein ehemaliger Verbündeter sich auf die Seite Abdullahs gestellt hatte. Doch der Gouverneur ignorierte die Weisung aus Kabul. „Karsai hatte keine Autorität mehr, weil seine Amtszeit abgelaufen war“, sagt Atta in seinem Königssaal und grinst. Sein Verbleib im Amt gehört nun auch zu den zentralen Forderungen des Abdullah-Camps für eine Koalitionsregierung, die noch immer nicht ganz vom Tisch ist. Die Frage ist nun, ob Karsai es auf einen offenen Machtkampf ankommen lässt, um seinen Einfluss im Norden zu unterstreichen. Oder wird er Atta mit einem anderen Posten aus Masar-i-Scharif herauskomplimentieren, wie er es mit dem Warlord Ismail Chan in Herat getan hat?

„Dann werden wir auf die Straße gehen“, warnt der Student Ehsanullah Jakubi auf dem Campus der Universität von Balch. Viele Bewohner fürchten mögliche Unruhen. Der regionale Kommandeur der afghanischen Nationalarmee, General Murad Ali Murad, plädiert dennoch für Attas Absetzung: „Wenn ein Präsident nicht einmal einen Gouverneur austauschen kann“, fragt er, „was für eine Regierung ist das denn?“