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„Wir glauben an das Kollektiv“

NEUSTARTNach zweijähriger Pause findet im Dorf Schiphorst zwischen Hamburg und Lübeck wieder ein Avantgarde-Happening statt. Mitorganisatorin Jeanne-Marie Varain über Gegenkultur, künstlerische Selbstbestimmung und Urlaub von der Realität

In Schiphorst begegnen sich Künstler und Publikum auf Augenhöhe. Dieses Jahr wird das Festival von Julia Jarque Y Jörg, Jeanne-Marie Varain und Ines Kramarić (v. l. n. r.) mit neuem Konzept wiederbelebt Fotos: Boris Kramarić, Ian Land

Interview Jan Paersch

taz: Frau Varain, was ist das Besondere am Avantgarde-Festival in Schiphorst?

Jeanne-Marie Varain: Uns gibt es schon über 20 Jahre, seit 1996. Die Grundidee war immer: eine gute Zeit gemeinsam zu haben. Es gibt keinen Backstage-Bereich für die Künstler*innen, es gibt eine Küche, in der alle gemeinsam essen und auf der unkuratierten Bühne kann jeder spontan performen. Genauso wichtig ist der Mehrgenerationen-Aspekt. Mein Vater Jean-Hervé Peron hat das Festival zusammen mit meiner Mutter Carina Varain initiiert. Später kamen meine vier Geschwister und ich hinzu, je älter wir wurden, desto mehr haben wir ausgeholfen. Auch das Publikum wurde immer jünger. Gemeinsam verbringt man hier drei Tage auf gleicher Augenhöhe, ganz unhierarchisch. Es gibt für niemanden einen Rückzugsort.

Auf Ihrer Website ist das Wort „Festival“ durchgestrichen, stattdessen geben Sie der Veranstaltung den Titel „Avantgarde is Happening“.

Wir haben uns von dem Begriff „Festival“ bewusst verabschiedet. Festivals im 21. Jahrhundert sind nicht mehr das, was wir uns darunter vorstellen. Die Ausrichtung ist meist sehr kommerziell, Sponsoren sind allgegenwärtig, was enorm viel Werbung auf dem Festivalgelände bedeutet. Das gibt es bei uns nicht. Wir wollen nicht, dass die Leute mit falschen Erwartungen kommen. Die lesen von uns in einem Festivalguide, packen ihre fünf Paletten Dosenbier ein und hängen rum. Um das zu verhindern, haben wir uns dem Begriff „Happening“ zugewandt. Der hat seinen Ursprung in der Gegenkultur der 1960er-Jahre, im Fluxus und Dada. Es geht darum, dass alle Anwesenden Mitverantwortung für das Gelingen tragen. Deshalb arbeiten wir mit freiwilligen Helfern, die beim Auf- und Abbau helfen und während des Wochenendes als Ansprechpartner fungieren. Ebenso sind die Gäste mit dem Ticketkauf und dem Konsum von Essen und Getränken Teil des Ganzen.

Sie haben auch deshalb zwei Jahre ausgesetzt, weil Sie mit dem Festival jedes Mal Verluste gemacht haben.

Richtig. Deshalb haben sich alle Künstler diesmal darauf eingelassen, nur das Geld zu bekommen, was wir auch einnehmen. Wir wollen in diesem Jahr kein Minus machen. Aber natürlich möchten wir den Künstlern, die aus den USA und Südafrika anreisen, zumindest ihre Reisekosten zurückzahlen können.

Wer „Happening“ liest, hat vielleicht gleich eine Hippie-Kommune vor Augen, freie Liebe und Drogen inklusive.

Als ehemalige Kunststudentin denke ich natürlich zuerst an Joseph Beuys und Nam June Paik. Die haben übrigens, genau umgekehrt, ihre Happenings oft Festivals genannt. Denen ging es um Aktionen außerhalb des Kunstmarkts. Kunst sollte anders als in Museen präsentiert werden, so haben sie ihre Art von Avantgarde geformt. Das ist auch unsere Idee: einen Raum für Kunst jeglicher Art zu schaffen. Bildende Kunst, die nicht in Galerien zu finden ist; Bands, die keine großen Labels haben. Do it yourself aus Überzeugung. So ergeben sich vielleicht auch revolutionäre Ansätze. Bei uns sind alle selbst verwaltet und selbst bestimmt.

Die Autonomie steckt sicherlich in dem Begriff „Avantgarde“, aber auch der Fortschritt. Identifizieren Sie sich mit dieser Definition?

Für uns ist die Idee der Avantgarde ein Dazwischen. Fortschritt oder Rückschritt ist keine Kategorie, für uns zählt die Zwischenmenschlichkeit. Gemeinsam im Moment etwas tun. Die Avantgarde ist auch ein Fluchtgedanke aus dem Jetzt. Wie kann die Zukunft anders sein? Sicher entwickelte sich die Bewegung aus einer Frustration heraus, aber deshalb muss die Musik und die Kunst nicht unbedingt wild und revolutionär sein. Die Avantgarde wollen wir im Menschen suchen.

Dennoch wirkt die Musik Ihrer Künstler oft unzugänglich und manchmal schwer verdaulich. Ist das Teil des Konzepts?

Sicher gibt es einiges, das sich Richtung experimentelle Musik oder Free Jazz entwickelt. Uns ging es aber darum, möglichst verschiedene Genres abbilden. Von Pop, Rock und Psychedelic bis Elektronik, Minimal und Krautrock ist alles vertreten. Das ist Musik, die auch heute noch bei größeren kulturellen Veranstaltungen eher wenig vertreten ist, gerade hier im Norden.

Gibt es Namen, die man als Informierter kennen könnte?

Den Hamburger Noise- und Industrial-Künstler Asmus Tietchens kennen sicher einige. Bobby Conn aus Chicago ist nach längerer Zeit wieder in Europa, den könnte man kennen, er kommt aus einem Punk-Hintergrund und hat sich dann auch Progressive Rock und Elektronik gewidmet. Mit Namen wie Kawabata Makoto, dem Gitarristen von Acid Mothers Temple, decken wir die Kraut- und Psychedelic-Rock-Schiene ab. Es hilft beim Booking sicherlich, jemanden wie Jean-Hervé dabeizuhaben. Der Name seiner Band Faust wirkt da oft noch wie ein Türöffner. Faust werden im Übrigen auch auftreten.

Das Fusion-Festival pausiert in diesem Jahr. Ist das ein Publikum, auf das Sie abzielen?

Das Avantgarde-Festival, das sich dieses Jahr „Avantgarde is Happening“ nennt, findet seit 21 Jahren auf einem alten Bauernhof mitten im 600-Seelen-Dorf Schiphorst zwischen Hamburg und Lübeck statt. Es gibt weder Sponsoren noch bekannte Bandnamen, alle Gewinne gehen an die Künstler. Ins Leben gerufen wurde es von Jean-Hervé Peron, der mit seiner Band Faust in den 1970ern eine der prägenden Figuren der deutsche Krautrock-Szene war. Nach zweijähriger Auszeit wird es nun von einem Dreierteam um Perons Tochter Jeanne-Marie Varain geleitet, zu dem auch die Künstlerinnen Muerbe und Droege gehören.

Genau, aber wir setzen in diesem Jahr auch verstärkt auf das Nicht-Musikalische. Es gibt Ausstellungen, die nebenher laufen, wir haben ein Kurzfilmprogramm und eine Schwitzhütte mit Klangperformance. Wir hoffen, dass unser Publikum bereit ist, drei Tage lang abzutauchen. Verlorenzugehen. Der Gedanke steckt ja schon im Karneval: sich total leer machen, sich zu betrinken, um dann einen Kater zu haben und zurückzufinden. Urlaub von der Realität, das versuchen wir mit Klängen und Bildern. Um mit erfrischtem Körper und Geist zurückzukehren. Wir haben schon die Rückmeldung bekommen, wie unglaublich geschärft die Ohren nach dem Festival seien, für die Klänge im Alltag. Auf einmal war alles Musik.

Sie kennen Ihre beiden Mitkuratorinnen vom Kunststudium in Braunschweig, einer durchaus renommierten Hochschule mit Professoren wie Christoph Schlingensief und Marina Abramovic. Hat das Studium Ihre Arbeit beeinflusst?

Ohne Zweifel, die fünf Jahre dort haben uns sehr fit gemacht. Wir haben alle drei Bildhauerei studiert, das wirkt wie eine gute Allround-Handwerkerausbildung. Vor allem aber hat es uns gelehrt, dass wir nichts mit dem existierenden Kunstmarkt zu tun haben wollen. Dort geht es um Egos, um die Idee des Künstlergenies. Dabei ist der vorgebliche Einzelkünstler niemals allein – und wenn da nur die Putzfrau ist, die die Galerie wischt. Diese Verhältnisse gefallen uns nicht. Wir glauben an das Kollektiv.

Schiphorst hat, Stand Dezember 2015, 632 Einwohner. Was sagen die zum Festival?

Manche im Ort stellen uns ihre Gästezimmer zur Verfügung, andere mähen ihre Wiesen, um Parkplätze zu schaffen. Diese Zusammenarbeit gibt es schon lange. Dennoch hatten wir das Gefühl, dass die Veranstaltung so etwas wie ein UFO war, das einmal im Jahr landet, mit Menschen aus aller Welt, die oft kein Deutsch sprechen. Deshalb ist das Happening Teil der Schiphorster Festwochen. Da gibt es weitere Veranstaltungen, darunter eine Skulpturenausstellung im öffentlichen Raum. Die Schiphorster haben auch Porzellantassen gesponsert, weil wir Plastikmüll vermeiden wollen. Somit hat jeder Gast während des Happenings seinen individuellen Schiphorst-Becher.

Jeanne-Marie Varain

27, ist Künstlerin und als Tochter von Jean-Hervé Peron und Carina Varain mit dem Avantgarde-Festival groß geworden. Bereits 2014 hat sie das Programm kuratiert, gemeinsam mit Ines Kramarić und Julia Jarque Y Jörg wagt sie nun den Neustart.

Sie sprachen den Mehrgenerationen-Aspekt an. Gab es bei Ihnen niemals das Bedürfnis, aufzubegehren und eine Distanz zu Ihren Eltern aufzubauen?

Ich bin sehr früh von zu Hause ausgezogen. Aber: Es ist ziemlich dumm, gegen Menschen zu rebellieren, die schon deutlich länger auf diesem Planeten sind. Wir müssen manche Fehler einfach nicht mehr machen. Wir Jüngeren verstehen uns sicherlich besser auf neue Technologien, aber unsere Elterngeneration kann so viel Wissen und Weisheit weitergeben. Uns fehlt nur noch die dritte Generation, für noch mehr Energie.

Avantgarde schon im Kindergarten?

Da bin ich vorsichtig. Als Anarchistin bin ich der Ansicht, dass man Kinder nicht formen darf. Man sollte „safety zones“ für Kinder einrichten, und wenn das die Avantgarde ist, habe ich kein Problem damit. Denn Kinder sind natürlich die größten Revolutionäre auf diesem Planeten.

„Avantgarde is Happening“ findet am Sa, 24. 6., und So, 25. 6., auf dem Hof von Jean-Hervé Peron und Carina Varain statt, Steinhorsterweg 2, 23847 Schiphorst

Infos und Programm:www.avantgardefestival.de