Jugendnetzkongress Tincon: Kohl? Nicht lustig

Ein bisschen Utopie, ein bisschen Basteln und ein paar grundsätzliche Fragen: Am Wochenende war in Berlin die Republica für Teens.

Martin Sonneborn auf der Bühne der Tincon

Martin Sonneborn zeigt, wie er und die „Titanic“ anno 2000 die WM nach Deutschland holten Foto: Gregor Fischer/TINCON

Was hat sich Martin Sonneborn eigentlich dabei gedacht, den Jugendlichen Helmut-Kohl-Witze zu erzählen? Der Satiriker wirft einen alten Titanic-Titel nach dem anderen auf die Leinwand. Überall Helmut Kohl. „Mit dem konnte man alles machen“, sagt Sonneborn. Kohl habe nie die Titanic-Redaktion verklagt, egal wie dreist die Schlagzeile gewesen sei. Ein paar Jugendliche lachen verhalten, die meisten lachen gar nicht.

Sonneborn steht an diesem Samstag auf der Bühne der Tincon, der Teenagerinternetwork Convention. Eine Netzkonferenz für Jugendliche, die Republica für Teens. Der Titanic-Herausgeber spricht über „Die Grenzen der Satire“, und man könnte denken, es läuft nicht besonders gut für ihn. Wie er da auf dem quietschgelben Teppich steht und erklärt, dass „Helmut Kohl muss Hauptstadt bleiben“ ein guter Witz ist und wieviel 800 DM eigentlich wert sind, und dass sein größter Coup tatsächlich ein Coup war: damals im Jahr 2000, als er Fifa-Funktionären Bestechungsfaxe schickte und damit die WM nach Deutschland holte.

Doch dann kommt die Fragerunde, und Sonneborn muss erst mal stutzen. Diese 13- bis 21-Jährigen auf der Tincon lachen zwar nicht bei Kohl-Witzen und können sich nicht an eine zum Sommermärchen verklärte WM in Deutschland und schon gar nicht an Bestechungsfaxe von der Titanic erinnern, weil sie damals entweder nicht geboren oder erst drei oder vier Jahre alt waren, aber im Publikum sitzen doch erstaunlich viele Sonneborn-Fans, die nun mindestens ebenso sarkastisch und trocken ihre Fragen und Kommentare in das Mikro nuscheln: „Herr Sonneborn, Sie sind doch viel zu faul zum Regieren!“ – „Herr Sonneborn, wie stehen Sie zum Klimawandel? Ja oder nein?“

Die scheinen etwas von Satire zu verstehen.

Keine Nachnamen

Da fragt man sich: Was sind das für Jugendliche? Die Nerds sind da. Zum Beispiel Oliver. Er hat einen Sticker am T-Shirt, der ihn als einen derjenigen ausweist, die mit den Medien reden. Das sind die Regeln für ReporterInnen auf der Tincon: Reden nur mit denen, die vorher eingewilligt haben, und es bleibt stets beim Vornamen. Es sind halt sehr viele Minderjährige hier. Da will so was vorher geklärt sein, auch mit den Eltern.

Bei Oliver dürften die Eltern zwar nichts mehr mitzureden haben, er ist 19 Jahre alt, dennoch bleibt es beim Vornamen. Er ist aus Hamburg angereist. Da studiert er Informatik. Er ist vor allem gekommen, um seinen Kindheitshelden zu treffen: Ralph Caspers aus der „Sendung mit der Maus“. In der Chillout-Area zwischen den beiden Hauptbühnen sitzen Mädchen, die in die Kamera quatschen, die sie sich selbst vorhalten: FMA – Follow Me Around – heißen die Tagebuchvideos auf YouTube. Aber ansonsten wirken die Jugendlichen, wie sie wohl schon immer gewirkt haben: in Kleingrüppchen oder allein, leicht gelangweilt dreinblickend, alle ganz lieb, vielleicht ein bisschen brav, aber das wirft seit mindestens 40 Jahren jede Generation der nachfolgenden vor.

Das Programm der Konferenz ist auf den ersten Blick überraschend. Wer nur YouTube-Stars und Gamer erwartet hat, hat Pech. Es geht um die Verschmutzung der Weltmeere, Jugendpolitik, Hass im Netz. Laura Dekker, die jüngste Weltumseglerin, tritt auf. Der Grünen-Politiker Jan-Philipp Albrecht erklärt Datenschutz. Veranstalter sind der Republica-Gründer Johnny Haeusler und seine Ehefrau Tanja.

Super spacig

Der Veranstaltungsort ist das Kraftwerk Berlin, alles Beton, die Decken sind hoch, die Wände lila, rot und blau angestrahlt. Wären die Besucher*innen 30 Jahre früher auf die Welt gekommen, würden sie wahrscheinlich sagen: „Sieht spacig aus.“ Tageslicht gibt es nicht, dafür Popcorn und einen Eiswagen, der laut bimmelt. Die Workshops und Vorträge sind allesamt ganz gut besucht. Auf den Gängen verläuft es sich aber und es wirkt leer. Ein bisschen wie auf einem Klassenausflug ins Museum. Die Basteltische sind oft nur halb besetzt, auch bei den Computerspielen muss man nicht lange warten.

Mindestens drei Jugendliche mit umgedrehten Baseballcaps werden bereits am ersten Konferenztag gesichtet. Und andere Klischees über die Millenniumskinder stimmen auch. Zum Beispiel: Die hängen alle am Handy. „Natürlich hängen wir alle am Handy. Das ist doch voll normal“, sagt Shagia. Sie ist im Februar 14 geworden und hat zwei Tickets für die Tincon zum Geburtstag geschenkt bekommen. Ihre Freundin Lelia begleitet sie.

Zwei kleine Däumlinge, würde der französische Philosoph Michel Serres sagen. Eine vernetzte Generation, die sich mit ihren Daumen die Welt erschließt. Es liest sich ein bisschen albern, wie der 86 Jahre alte Philosoph als ganz verliebter Großvater über die digitale Revolution und ihre Kinder schreibt, aber sein Essay „Erfindet euch neu!“ aus dem Jahr 2012 liefert die Analyse für das, was man auch auf der Tincon erlebt: Das Zeitalter des Wissens sei vorbei, schreibt er. Lelia sagt: „Wir bekommen all unsere Infos im Internet. Das ist viel praktischer als Bücher. Da musst du immer erst alles lesen, und am Ende kriegt man eh nix raus.“ Natürlich, wer braucht noch Bücher? „Däumelinchen hat die Taschen voller Wissen, so leicht zur Hand wie ein Taschentuch“, schreibt Serres. Er sieht uns in einer Zeit vergleichbar mit der Einführung des Buchdrucks. So massiv verändere sich unsere Gesellschaft. Ihre Institutionen seien nur noch Überbleibsel einer alten Zeit, die demnächst weichen müssten.

Schule ist scheiße

Genau das forderten schon am Freitag die Jungs von „The Simple Club“. Alex Giesecke und Nico Schork bieten auf ihrer Plattform Nachhilfevideos an. Da geht es dann um Integralrechnung oder den Nährstofftransport innerhalb einer Zelle. „Wer hat schon ein Video von uns gesehen?“, fragt Giesecke. Fast alle strecken ihre Hände hoch. Die beiden Mittzwanziger lächeln stolz: lauter Fans im Raum, bis in der Fragerunde ein Junge die Hand hebt und sagt: „Ihr seid ganz nett, aber eure Videos finde ich echt scheiße.“ Bisher hat das Publikum jeden Witz mitgefeiert, eine junge Frau hat sich bei den beiden bedankt, dass sie sie durchs Abi gebracht haben. Jetzt studiere sie Lehramt. Deshalb gucken die beiden Redner erst mal ziemlich verwirrt, und der Junge erklärt: „Mein Physiklehrer bereitet gar keinen Unterricht vor, der zeigt einfach nur eure Videos. Das finde ich scheiße.“

Giesecke und Schork sehen jetzt doch wieder ganz erleichtert aus, denn das ist der Punkt, auf den sie hinauswollen. „Wir kitten mit unseren Videos ein System, das nicht mehr funktioniert“, sagt Schork. Warum gebe es noch Fächer? Das hätten sich die Preußen einmal vor einer Ewigkeit ausgedacht, aber die Welt funktioniere leider nicht in Fächern. Und warum würde Tausenden Jugendlichen eingeredet, sie seien zu dumm für Mathe und Physik? Warum müssten überhaupt alle das Gleiche lernen? Die Institution Schule sei am Ende. Nicht politisch, es wird wohl noch einige Zeit so weitergehen wie bisher. Aber Serres fragt sich, warum der Untergang der Institutionen so lange dauere.

Aber vielleicht geht es doch ganz schnell. Leo zumindest ist davon überzeugt. Er kommt aus Berlin, ist gerade 13 geworden. „Ich wusste ja schon lange, dass das Schulsystem beschissen ist“, sagt er. Aber jetzt würde er mal darüber nachdenken, was man alles anders machen könne.

Weiterdiskutieren

Einen Tag später auf der Hauptbühne: Es geht gerade darum, wieviel Mainstream der Feminismus verträgt. Viele große Firmen, darunter auch H&M, verkaufen sich seit Kurzem gern als Feministen. Autorin Hengameh Yaghoobifarah, die auch für die taz eine Kolumne schreibt, und der YouTuber Tarik Tesfu können gar nicht alle Fragen dazu beantworten. Also ziehen sie nach der Diskussion mit einem Dutzend Jugendlichen um. Hinten in der Funk-Lounge, wo das öffentlich-rechtliche Jugendangebot einen Platz bespielt, geht die Diskussion weiter. In der einen Ecke stehen Sofas, auf mehreren Fernsehern laufen Trailer für Funksendungen in Dauerschleife, und dann geht es noch eine fast eine halbe Stunde um den Unterschied zwischen Feminismus und Humanismus und ob man sich als Junge auch Feminist nennen will, darf und soll. Ein bisschen Utopie, ein bisschen Basteln und ein paar grundsätzliche Fragen. So geht es das ganze Wochenende.

Neben der Hauptbühne steht die Feedback-Wand. Von Weitem sieht sie aus wie jede mit Edding vollgemalte Schulklokabine. Wenig Feedback, viele Botschaften, Smileys, Herzchen. Franz war hier. Nächstes Jahr bitte Ronaldo einladen. Shagia und Lelia haben sich verewigt. #nomainstream. #girlpower. Ein Spruch wurde dick durchgestrichen. Er ist jetzt unlesbar. Daneben steht: „sexist bullshit.“ Das lässt doch hoffen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.