Sehnsucht nach dem Sommerloch

Zweisamkeit an einem Nachmittag im Sommer Foto: Martin Rosie/bobsairport

Auch wenn sich Säkulare ungern etwas von Religionen abschauen, so sollten sie eine Ausnahme machen: beim Rhythmus. Religionen haben ein Gefühl dafür. Sie gliedern das Jahr in eine Abfolge von Zeiten und Festen; erst wird gefastet oder Buße getan, anschließend wird gefeiert. Dazwischen gibt es Ruhezeiten.

Die Christen haben runde Scheiben, die Uhren ähneln, auf denen man nachsehen kann, welche Zeit gerade ist. Juli ist Trinitaszeit. Warum diese Zeit nach der Dreifaltigkeit benannt ist, ist für diesen Text egal. Wichtiger ist, dass sie einem Sommerloch entspricht. Pfingsten ist vorbei, erst mit Erntedank geht es weiter. Dazwischen liegen nur ein paar kleinere Feiertage: eine Art Sommerpause.

Die Kirchen haben etwas verstanden, was Säkulare manchmal vergessen: Menschen sind rhythmische Wesen. Nur wenn Dinge zu Ende gehen, bevor andere anfangen, haben wir das Gefühl, dass die Zeit fließt – und sie einen Halt hat. Fehlt dieser Rhythmus, stürzt die Zeit fort. Sie ist nicht gerichtet, sie schwirrt, sagt der Philosoph Byung-Chul Han. Ohne Anfang und Ende ist sie nicht narrativ, sondern additiv: Es wird etwas hinzugefügt, aber es fehlt der Sinnzusammenhang. Computer arbeiten additiv, man kann sie endlos beschleunigen. Menschen erfassen die Welt aber narrativ, wie eine Geschichte. Geschichten kann man nicht beschleunigen. Versucht man es, zerstört man sie.

Das Sommerloch hat keinen guten Ruf. Es ist so langweilig! Politiker sind im Urlaub, Sportvereine machen Sommerpause, die Zeit scheint stillzustehen. Manchmal ist es fast unerträglich. So wie eine leere Kleinstadt unter steiler Mittagssonne, in der nur das ungemähte Gras am Wegesrand leise raschelt. Nichts Neues. Stattdessen tauchen Dinge auf, von denen man vergessen hatte, dass es sie gibt: Blumenkübel, Studien zur Handynutzung, Ungeheuer und alle möglichen Tiere, der Schwan Petra oder die Kuh Yvonne. Wie schrecklich. Und wie schön.

Die Idiotie des Sommerlochs gliedert das Jahr. Alle atmen durch, leeren ihr Gehirn, sammeln neue Kraft für den Herbst. Vergleichbar ist diese Zeit nur mit den Tagen zwischen den Jahren. Auch hier hält steht die Welt für einen Moment an, bevor es wieder weitergeht.

Weihnachtsloch und Sommerloch sind bedroht von einer Welt, die immer noch etwas hinzufügt. Beide Auszeiten schrumpfen; aus ein paar Wochen werden immer weniger Tage. In den vergangenen zwei Jahren sind sie wegen der dramatischen Ereignisse sogar ganz ausgefallen.

Der Sommer 2015 war von den hunderttausenden Menschen geprägt, die sich auf den Weg nach Europa und nach Deutschland gemacht haben. Das Jahr 2016 begann damit, dass hunderte Frauen in Köln und anderen Städten angegriffen wurden. In der Ferienzeit 2016 starben alle paar Tage Menschen bei Anschlägen. Und die Weihnachtszeit 2016 ruinierte Anis Amri.

Seit zwei Jahren hat die Welt keine Ruhe gegeben. Sie hat uns keine Auszeit gegönnt. Ein Sommerloch 2017 wäre Luxus, vielleicht würde man es zum ersten Mal wirklich zu schätzen wissen: diese paar öden Wochen, in denen nichts passiert. In denen die Welt noch dieselbe ist, wenn man nach zwei Wochen das Handy wieder anschaltet. Besonders gut sieht es aber nicht aus: Trump ist Präsident, und im Herbst wird der Bundestag gewählt.

Der Philosoph Byung-Chul Han hat einen Essay über eine Welt ohne Pause geschrieben. Wenn wir unfähig sind, etwas abzuschließen, dann kommt der Schluss eben zur Unzeit – in Form einer ­Katastrophe. Wie bei der Death-Metal-Band, die nicht wusste, wie sie ein Lied beenden sollte, das keine Struktur hatte. Als die Lautsprecher aus Überlastung durchbrannten, war das wie eine ­Erlösung.

Fällt in diesem Jahr das Sommerloch wieder aus, gibt es keine elegante Lösung. Man kann höchstens den Stecker ziehen, bevor die Geräte durchbrennen.

Steffi Unsleber