Hin und wieder ein einsames Segelboot

Am Wasser Als die Berliner zu Beginn des 20. Jahrhunderts am Wannsee relaxten, gefiel die freizeitpolitische Sensation der Bourgeoisie nicht. Eine Ausstellung in der Liebermann-Villa zeugt vom „Streit am Wannsee“

Max Kemnitz zoomt nah ans Ufer heran: „Komm, lass uns ins Grüne“ Foto: Galerie Mutter Fourage

von Donna Schons

Als die Wannseebahn erst einmal eröffnet war, gab es kein Halten mehr. Seitdem die Direktverbindung zwischen Innenstadt und idyllischer Peripherie 1884 eingeweiht worden war, strömten die Berliner zuhauf an den See, um sich im kühlen Nass zu erfrischen. Dass das Baden damals aus sittlichen Gründen noch streng verboten war, kümmerte die wenigsten – zu verlockend war die Verheißung, den dunklen Mietkasernen zu entfliehen und unweit der preußischen Hauptstadt Sonne und Natur zu genießen. Die pickelhaubigen Wachtmeister kamen mit ihren Kontrollen ohnehin kaum hinterher, und so entschloss sich die königliche Regierung 1907, den wilden Badespaß wenigstens in halbwegs geordnete Bahnen zu leiten – der Wannsee wurde zur öffentlichen Badestelle erklärt.

Diese kleine freizeitpolitische Sensation war nicht für jeden Anlass zur Freude. In den 1870er Jahren hatte sich um den See herum eine beschauliche Kolonie an Sommerhäusern gebildet, in denen Künstler, Unternehmer und Wissenschaftler der Berliner Bourgeoisie im Sommer Zuflucht vor dem Trubel der Stadt fanden. Unter ihnen war auch der Maler Max Liebermann, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts eines der letzten freien Grundstücke ergattert und dort eine stattliche Künstlervilla errichtet hatte. Er und seine Nachbarn mussten den Wannsee nun mit den Tagesgästen teilen, von denen es im Jahrhundertsommer 1911 fast eine halbe Millionen an den Wannsee zog. Den Anwohnern wurde es bald zu bunt, und so ging keine vier Jahre nach der offiziellen Badeerlaubnis ein entrüsteter Beschwerdebrief bei der königlichen Regierung in Potsdam ein, in dem sich Liebermann und 26 weitere „geistig arbeitende Männer“ über die plötzliche Lärmbelästigung am Wannsee echauffierten. Grund zur Beschwerde waren vor allem die „Musikkapellen schlimmster Sorte“, mit denen das Familienbad und die ansässigen Restaurants und Kundschaft warben – und deren „nervenaufreizende Missklänge“ bis hinüber ins Villenviertel drangen.

Das vierseitige Protestschreiben bildet den Ausgangspunkt der Ausstellung „Streit am Wannsee“, die diesen Sommer in der Liebermann-Villa zu sehen ist. Neben dem Originaldokument werden Werke Berliner Künstler gezeigt, die illustrieren, welche gegensätzlichen Vorstellungen von sommerlicher Freizeitgestaltung hier vor einem Jahrhundert aufeinandertrafen. Eingangs zeigen Gemälde von Liebermann und seinen Nachbarn Philipp Franck und Hugo Vogel farbenfrohe Gärten, von laubbeschatteten Einfahrten gesäumte Zitadellen; hin und wieder ein einsames Segelboot auf dem weiten See. Menschen sind keine zu sehen, trotzdem geben die impressionistischen Gemälde Hinweis darauf, wer damals so alles zu der gehobenen Gesellschaft gehörte, die sich über die plötzliche Lärmbelästigung am Wannsee echauffierte: Die Häuser und Gärten gehören einzelnen Unterzeichnern des Briefes, unter ihnen Chemiker und Unternehmer Franz Oppenheim und Liebermann selbst.

Einen Raum weiter sieht man dann an mancher Stelle den Strand vor lauter Menschen nicht: Beim Impressionisten Paul Paeschke verschwimmen die Badegäste zu einem Meer aus bunten Punkten entlang der Seezunge; der Karikaturist Max Kemnitz zoomt näher ans Ufer heran und zeigt eine bunte Truppe an barfüßigen Gitarrenspielern, Sonntagsmalern in zerfetzter Kleidung und Faulenzern in Hängematten, umgeben von einer Menge Papiermüll.

Grund zur Beschwerde waren vor allem die „Musikkapellen schlimmster Sorte“

Während die Ausflügler bei Kemitz noch relativ bedeckt bekleidet sind, wird bei Heinrich Zille im dritten Ausstellungsraum das Baby unbekümmert am Strand gestillt, im Wasser spielt man Ringelpiez mit Anfassen, und ein opulenter Frauenkörper im engen, knallblauen Badeanzug hockt huckepack über einem nackten Po. Zille, bekannt für seine bissigen Karikaturen über das Berliner Stadtleben, kehrte immer wieder an den Wannsee zurück und schuf mit seinen Aquarellen und Zeichnungen ein Abbild der proletarischen Utopie, die sich damals in Form von freizügig-fröhlichem Badespaß am Wannsee entfaltete. Und so blieben seine Figuren leicht bis gar nicht bekleidet, selbst nachdem der freizügigen Bademode durch eine Polizeiverordnung Einhalt geboten worden war.

Besagter Protestbrief blieb derweil übrigens unbeantwortet. In Berlin war die Moderne angebrochen, und ihrer Massenkultur war auch in den Vororten der Stadt kein Einhalt mehr zu gebieten. Die Villenbesitzer mussten sich wohl oder übel an den Trubel gewöhnen, und die meisten von ihnen blieben trotz Blaskapellen am See. Liebermann selbst kehrte bis zu seinem Tod jeden Sommer zurück und hielt seine unmittelbare Umgebung in mehr als 200 Ölgemälden fest.

Nach Besichtigung der überschaubaren Ausstellung in Liebermanns zum Museum umgebauten Sommerhaus lohnt sich deshalb auch ein Spaziergang durch den originalgetreu restaurierten Garten. Hier erkennt man nicht nur die Bronzeskulpturen und Blumenbeete aus Liebermanns Gemälden wieder, sondern genießt über 100 Jahre nach dem Streit am Wannsee am seerosenumrandeten Steg mit Blick auf das Strandbad nun auch wieder eine märchenhafte Stille.

„Streit am Wannsee“ in der Liebermann-Villa, Colomierstr. 3, Mi.–Mo. 10–18 Uhr, bis 3. Oktober