American Pie
: Der unbezahlbare Iron Man

Aufschwung In Chicago schreibt ausgerechnet ein Fußballteam die schönsten Erfolgsgeschichten. Großen Anteil daran hat Bastian Schweinsteiger

Section 8“ hat endlich wieder Grund zum Jubeln. Regelmäßig verwandeln die treuesten und auf jeden Fall lautstärksten Fans der Chicago Fire ihr kleines 20.000-Zuschauer-Stadion in einen Hexenkessel. Zelebrieren den Erfolg ihrer Mannschaft mit überdimensionalen Bannern, Trommeln und Choreografien. Denn die Fire sind aktuell – zur Hälfte der Saison – ganz vorn in der Major League Soccer, der höchsten US-Spielklasse.

Im Mittelpunkt des Aufschwungs: Bastian Schweinsteiger. Zwei Tore und eine Vorlage steuerte der 32-Jährige in bisher 15 Spielen bei. Nur zwei davon verlor Chicago. Mittlerweile ist die Mannschaft seit zehn Partien ungeschlagen – auch dank dem Neuzugang. „Es passt alles,“ sagte Schweinsteiger selbst vor Kurzem. „Ich habe eine Menge Spaß hier.“

Die größten Fire-Anhänger – benannt nach ihrem Stamm-Abschnitt im alten Soldier-Field-Stadion „Section 8“ – gelten nicht nur unter Experten als leidenschaftlichste Fan-Gruppierung der Sportstadt Chicago.

Und: als leidensfähigste. Denn die Zuschauer wurden zuletzt eher selten verwöhnt mit hochklassigem Soccer. Die Fire beendeten die letzten beiden Spielzeiten jeweils als schlechtestes Team der kompletten MLS – und das ausgerechnet in der sportbegeisterten 2,7-Millionen-Einwohner-Stadt. Zuletzt haben die Fire viermal in Folge die Playoffs verpasst, die letzte Finalteilnahme liegt schon 14 Jahre zurück. Die einzige Meisterschaft gewann Chicago gleich in der ersten Saison nach Gründung des Teams 1998. Chicago ist aktuell ohnehin nicht mit vielen Champions gesegnet. Die einst glorreichen Basketballer der Bulls stecken fest im unteren Mittelmaß der NBA, der letzte Football-Titel der Bears ist über 30 Jahre her, die Blackhawks schieden als amtierender Eishockey-Meister bereits in der ersten Playoff-Runde aus. Einzig die Cubs erleben dieser Jahre ein Zwischenhoch, wurden 2016 zum ersten Mal seit 1908 wieder Meister im Baseball.

Im Klubumfeld wird bereits von der ersten Meisterschaft seit 19 Jahren geträumt

Nun sollen die Fire die Lücke füllen, die die Platzhirsche hinterlassen haben – und der Umschwung kam mit Schweinsteiger. „Er ist alles, das ich mir erhofft hatte, und noch mehr,“ sagte Fire-Trainer Veljko Paunovic vor wenigen Wochen in einem Interview. Der Serbe ist in seiner zweiten Saison in Chicago. Als Spieler absolvierte der 39-Jährige 2004/05 auch sechs Bundesligaspiele für Hannover 96. „Seine Einstellung, sein Engagement, sein Siegesverlangen und seine Fähigkeit, die anderen an seiner Erfahrung, seinen Gedanken und seinem Wissen teilhaben zu lassen, sind einfach unglaublich. Er ist unbezahlbar für uns.“ Vom unbeugsamen „Iron Man“ sprechen die Fans bereits ehrfürchtig und zuweilen auch von der „Ikone“.

Auf dem Feld ist Schweinsteigers Einfluss sofort sichtbar: Er ist die Schaltzentrale im Fire-Mittelfeld. Er gestikuliert und leitet seine Teamkollegen an wie zu besten Zeiten beim FC Bayern und in der Nationalmannschaft. Auch ohne Kapitänsbinde – die trägt der Brasilianer Juninho, der neben ihm im Zentrum spielt. „Wir haben jetzt eine bessere Hierarchie“, sagt Stürmer Michael de Leeuw. „Jeder weiß, was er zu tun hat. Bastian ist ein großer Spieler, eine echte Persönlichkeit. Er hilft dir jeden Tag.“ Der Ungar Nemanja Nikolic ist aktuell mit 16 Toren in seiner ersten Saison gleich bester Torschütze der Liga. Auch der 29-Jährige beschreibt den Einfluss des Neuzugangs: „Wir müssen ihm nichts sagen. Er weiß genau, was er tut. Wenn wir nicht mehr weiterwissen, geben wir ihm den Ball.“

Im Umfeld des Klubs wird bereits von der ersten Meisterschaft seit 19 Jahren geträumt. „Wenn er uns zum Titel führt, würde das seine Karriere endgültig krönen“, sagt Fire-Manager Nelson Rodriguez. „Er wusste genau, dass er zu keinem Top-Klub kommt. Mir schien es so, als hätte es gerade dieser Umstand für ihn attraktiv gemacht. Er wollte die ­Herausforderung.“ Gelingt der ganz große ­Triumph, würde „Section 8“ wohl so jubeln wie nie zuvor. David Digili