halbfinale Mit dem 3:0-Sieg über England werfen die Holländerinnen den letzten verbliebenen Favoriten aus dem Turnier. Konzentrierte Lässigkeit ist das Erfolgsrezept
: Luftballons sind orange

Oranje first: Jackie Groenen (l.) setzt sich gegen Englands Jade Moore durch Foto: ap

Aus Enschede Johannes Kopp

Ganz sachte trieb der Wind in der 35. Minute einen orangen Luftballon auf den Rasen. Und Anouk Dekker, die niederländische Verteidigerin, tat, was man eben tut, wenn einem an einem störungsfreien Spiel gelegen ist: Sie trat drauf. Peng! Ein orkanartiger Jubel brandete im Stadion von Enschede auf.

Mit 27.093 Zuschauern hatten die Niederländer im Halbfinale gegen England wieder einen ihrer Rekorde bei dieser EM weiter nach oben geschraubt. So viele Menschen haben in diesem Land noch nie Frauen beim Kicken zugesehen. Der Frauenfußball versetzt die Niederländer in diesen Tagen in Ekstase. Volksfeststimmung machte sich im beschaulichen Enschede nahe der deutschen Grenze schon tagsüber breit. Immer mehr Oranje-Fans trafen von überallher ein und traten sich rund um den Markplatz gegenseitig auf die Füße. Und die Geschichte mit dem Luftballon zeigt: Schon der geringste Anlass reicht aus, um die Emotionen zu befeuern.

Am Ende der Partie hatten die orangegewandeten Menschenmassen allerdings Einmaliges zu feiern. Nach einem berauschen 3:0-Erfolg steht der Gastgeber der Europameisterschaft erstmals in seiner Geschichte im Endspiel. Mit Dänemark trifft er dann am Sonntag (17 Uhr, ZDF) auf einen anderen Überraschungsfinalisten, der wiederum das österreichische Überraschungsteam im Elfmeterschießen bezwang. Diese EM wirbelt derzeit gleich mehrfach Hackordnungen durcheinander.

Für die Porträtfotos aller jemals beim FC Twente Enschede aktiven Männerprofis, welche die Wand eines langen, schmalen Gangs im Stadioninneren zierten, hatte keiner mehr ein Auge. Davor standen schließlich die neuen Heldinnen, um die sich die zahlreichen heimischen Medienvertreter drängten. „Die Festung“ hatten an diesem Abend die Frauen für sich eingenommen. Jackie Groenen, die in einem starken Team zu den stärksten zählte und beim 1. FFC Frankfurt aktiv ist, schwärmte: „Das Team ist gut, aber das Publikum macht ganz viel aus. Es ist übertrieben cool.“

Mit den Erwartungen der eigenen Fans, die mancherorts schon häufig lähmend gewirkt haben, verstehen die „Oranje Leeuvinnen“, wie sie genannt werden, umzugehen. Trainerin Sarina Wiegman erklärte, man habe sich mit dem Thema Druck auseinandergesetzt. „Wir haben uns gesagt, wenn wir alles geben, können wir unabhängig vom Ergebnis stolz sein. Diese Einstellung hilft uns, Spiele zu gewinnen.“

Trainerin Wiegman dankte Kapitänin van den Berg, die nicht spielte: „Aber sie ist für alle da“

Die sorgfältige und reflektierte Vorbereitung spiegelt aber auch wider, wie ernst die Niederländerinnen diese EM nehmen. Im Vergleich zu Österreich, dem anderen großen Überraschungsteam dieser EM, die für reichlich Gaudi sorgten und von sich selbst am meisten überrascht waren, wirken die Gastgeberinnen bei aller Freude sehr kontrolliert. Auch wenn Wiegman behauptet, sie hätte jeden für verrückt erklärt, der ihr vor ein paar Wochen prognostiziert hätte, dass man Schweden und England in der K.-o.-Phase bezwingen würde, scheint es doch so, als ginge es dem Team hier um die Vollendung eines zwar ambitionierten, aber schon lange gehegten Plans.

Der Erfolg kommt ja auch nicht von ungefähr. Die Ausnahmekönnerin Vivianne Miedema, die das erste wunderschön herausgespielte Tor per Kopf erzielte, war mit der niederländischen U19 bereits 2014 Europameisterin und erzielte damals die meisten Turniertreffer. In den letzten zehn Jahren wurden aus dem Nichts bemerkenswerte Strukturen geschaffen. In dieser Dekade wurde die zumindest semiprofessionelle Ehrendivision geschaffen und etabliert und die Basis mächtig verbreitert. Die Zahl der Fußball spielenden Frauen verdoppelte sich auf etwa 153.000. In Amsterdam und Eindhoven wurden Stützpunkte geschaffen, wo U15- und U17-Teams offiziell gegen Jungsteams antreten.

Ein EM-Titel wäre gewiss eine beglückende Bestärkung des eingeschlagenen Weges. Doch Sarina Wiegman hält dem Strom der Euphorie, der um sie herumtost, eisern stand. Am Donnerstagabend hätten sich eine Reihe von Spielerinnen für eine kleine Extrawürdigung angeboten. Doch Wiegman widmete sich einer, die niemand im Blick hatte. Sie könne viele Beispiele aufzählen, sagte sie, warum sie ein wirkliches Team trainiere, wolle sich aber auf eines beschränken. Ihre Kapitänin Mandy van den Berg habe wieder wie bei den Turnierspielen zuvor auf der Bank Platz nehmen müssen. „Aber sie ist die ganze Zeit für alle da im Team. Ich bin wirklich stolz auf sie.“ Es dürfte in diesen Tagen für van den Berg, die nominelle Mannschaftsführerin, keine leichte Sache sein: zuzuschauen, wenn die Kolleginnen schon für das Zerplatzen von Luftballons gefeiert werden.