Triumph der Unbekümmertheit

EM Das Finale bot ein Offensivspektakel mit großen Individualistinnen und einem verdienten Sieger. Die Niederländerinnen haben die Hierarchie des Frauenfußballs durcheinandergewirbelt. Sie appellierten aber auch an den eigenen Verband für ihre Zukunft

Ein silberner und ein bronzener Schuh als Auszeichnung: Die Niederländerinnen Vivianne Miedema und Lieke Martens freuen sich übers Schuhwerk und hier über den Sieg Foto: reuters

aus Enschede Johannes Kopp

Mit ihren irrwitzig schnellen und irrwitzig oft angetretenen Tempoläufen zeigte Shanice van de Sanden bereits beim Eröffnungsspiel stellvertretend für das niederländische Team auf, dass mit einer gewissen Unbekümmertheit einiges möglich ist. Der Spielbericht der neuen Europameisterin van de Sanden in den Katakomben des Sta­dions von Enschede veranschaulichte recht gut, wie unsagbar groß diese niederländische Unbekümmertheit selbst im Finale noch war. Als Pernille Harder bereits in der 33. Minute den Ausgleich für die Däninnen zum 2:2 gelang, erzählte sie, habe sie gedacht: „Wow, das ist ja ein richtiges Finale.“

So sportlich muss man einen Gegentreffer erst einmal hinnehmen, wenn die Mehrzahl der 28.112 Zuschauer ringsum und die Millionen Landsleute vor den TV-Geräten gerade den großen Traum vom ersten EM-Titel verwirklicht sehen möchte. In der Tat bot dieses EM-Finale ein Offensivspektakel mit großen Einzelkönnerinnen, das viele Experten zuvor schon als ein abgeschlossenes Geschichtskapitel des Frauenfußballs betrachtet hatten, weil bei diesem Turnier selbst die kleinen Nationen so häufig mit nahezu undurchdringlichen Abwehrketten agierten und die Lücken schlossen.

Van de Sanden aber erklärte, in der Halbzeitpause sei man übereingekommen, dass ja eigentlich nichts passiert sei, es quasi noch 0:0 stehen würde, und man einfach wieder hinausgehe und dasselbe mache wie in den letzten Spielen zuvor. Einige Unstimmigkeiten im Defensivverhalten hatte Trainerin Sarina Wiegman in der Kabine angesprochen und mehr Kompaktheit eingefordert.

Im Grunde hatte ihr Team, das als Außenseiter in dieses Turnier gestartet war, die makellose Serie eines Turnierfavoriten gespielt. Sechs Spiele, sechs Siege. Bei der Meisterprüfung am Sonntagabend in Enschede stellten die Niederländerinnen zudem unter Beweis, dass man auch Korrekturen vornehmen kann, wenn nicht alles nach Plan läuft.

Erst als die Stadionregie nach dem 4:2-Erfolg den Oranje-Schlager „Jij Krijgt Die Lach Niet Van Mijn Gezicht“ („Du kriegst das Lachen nicht aus meinem Gesicht“) einspielten, löste sich die Anspannung der von Sieg und Stimmung überwältigten Spielerinnen vollends auf. Sie tanzten wild über den Rasen.

Das Turnier hatte seine verdienten Siegerinnen gefunden. Zum ersten Mal kamen sie nicht aus Deutschland (achtmal Europameister), Norwegen oder Schweden. Diese Europameisterschaft hat die Hierarchie des Frauenfußballs komplett durcheinandergewirbelt. Die niederländische Trainerin Sarina Wieg­man hob in dieser Angelegenheit noch einmal die Verdienste Dänemarks hervor, das Deutschland im Viertelfinale 2:1 besiegt hatte. „Sie haben damit angefangen, wir haben das fortgesetzt.“

Ebenso wohlwollend ließ der dänische Trainer Nils Nielsen keine Zweifel daran, dass die Niederlande den Titel zu Recht gewonnen hatte. „Wir haben alles probiert, aber manchmal ist das andere Team einfach besser.“ Es sei nicht leicht, als Gastgeber eine EM zu spielen, aber das niederländische Team sei das beste bei dem Turnier ­gewesen, lobte er. Sie hätten einen großartigen Matchplan gehabt.

„Manchmal ist das andere Team einfach besser“

Dänemark-Coach Nils Nielsen

Eine Strategie, ein eingespieltes Team, große Unbekümmertheit, Leidenschaft und die gute Form der begabten Individualistinnen – das gelungene Zusammenspiel dieser Erfolgskomponenten unterschied den Europameister vom Turnierfavoriten Deutschland und anderen hoch gehandelten Teams.

Die Ehrung der besten Akteurinnen des Turniers geriet so auch zu einer niederländischen Angelegenheit. Die Stürmerin Lieke Martens wurde zur besten Spielerin des Turniers gekürt und erhielt als drittbeste Torschützin zudem einen Bronzenen Schuh. Den silbernen Schuh bekam ihre Teamkollegin, die Stürmerin Vi­vian­ne Miedema, ausgehändigt. Die Britin Jodie Taylor, die mit fünf Toren am erfolgreichsten war, war nach dem Halbfinale ohnehin schon abgereist.

Trotz all der Ehrungen und Lobpreisungen gab sich die 47-jährige Trainerin Wiegman nicht der Euphorie im Hier und Jetzt hin, sondern nutzte all die Aufmerksamkeit, die ihr zuteil wurde, zu einem bemerkenswerten Appell für die Zukunft des Frauenfußballs. „Wir müssen die gemischten Fußballteams unter den Neun- und Zehnjährigen fördern. Das ist eine Aufgabe für die Klubs und den niederländischen Verband.“ Und sie warb für die weitere Förderung von weiblichen Trainerinnen.

Dass sich die frisch gekürte Europameisterin in der Stunde ihres größten Erfolgs zugleich mahnend und bittend an den ­eigenen Verband richtete, zeigte zum einen, mit wie vielen ­Hindernissen der Frauenfußball noch zu kämpfen hat, zum anderen aber auch, wie viele ungenutzte Möglichkeiten es noch gibt. Die Mittelfeldspielerin ­Jackie Groenen sagte: „Ich hoffe, dass die Mädels sehen, was für ein Traum es ist, hier zu spielen.“