Totgesagte leben länger

ESSAY Rot-Rot-Grün als Regierungsmodell bleibt aktuell, muss aber ein überparteiliches Projekt sein

Illustration: Eléonore Roedel

Christoph Butterwegge

Der gegenwärtige Bundestagswahlkampf gleicht dem Sommer: Mancher wartet noch immer auf ihn, niemanden stellt er wirklich zufrieden, und die meisten Bürger sind davon schon vor seinem Ende tief enttäuscht. Wechselstimmung will denn auch nicht aufkommen, und ein politischer Richtungswechsel liegt in weiter Ferne, obwohl er aufgrund der wachsenden sozialen Ungleichheit, des Gestalt annehmenden Überwachungsstaates, des fortschreitenden Klimawandels, der ins Stocken geratenen Energie- sowie der zuletzt durch das Dieseldesaster stärker ins öffentliche Bewusstsein gelangten Verkehrswende und der Aufrüstungspläne von Konservativen notwendiger denn je wäre.

Schuld an dem themenarmen, blutleeren und weitgehend substanzlosen Wahlkampf sind nicht allein die SPD und ihr Kanzlerkandidat Martin Schulz, der sein Leitmotiv „Zeit für mehr Gerechtigkeit“ höchstens partiell mit Inhalt gefüllt hat. Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke, die den größten Partner einbinden und einhegen müssen, verfügen ebenfalls über kein mitreißendes Programm und kein tragfähiges Konzept für einen Regierungswechsel.

Für einen Abgesang auf Rot-Rot-Grün ist es gleichwohl noch zu früh. Wer vorschnell die Totenglocken für eine solche Koalition auf Bundesebene läutet, weil sie in aktuellen Umfragen keine Mehrheit habe, verkennt die Tatsache, dass Politik mehr ist als Arithmetik. Erforderlich wären ein charismatisches, sympathisches und führungsstarkes (Spitzen-)Personal, ein attraktives Programm, eine realistische Macht- beziehungsweise Mehrheitsperspektive sowie ein gemeinsames Projekt der künftigen Regierungspartner. Mit einem Projekt der Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von oben, wo er sich immer stärker konzentriert, nach unten, wo Armut, soziale Ausgrenzung und Überschuldung vorherrschen, könnte denjenigen Menschen wieder Hoffnung gemacht werden, die Hauptleidtragende der neoliberalen Reformpolitik sind. Nur die CSU und die CDU im Saarland haben mit ihrer Hetze gegen eine „Linksfront“ die starke Dynamik erkannt, die ein progressives Bündnis in der Öffentlichkeit entfalten könnte, und sie erfolgreich zur Gegenmobilisierung genutzt.

R2G, Demokratie und soziale Frage

Für sozial Marginalisierte, von Ab­stiegs­ängsten geplagte Mittelschichtangehörige und von der Großen Koalition enttäuschte „Modernisierungsverlierer“ muss bei der Bundestagswahl eine überzeugende Alternative zur AfD existieren, will man deren Stimmenzahl in Grenzen halten. Es gibt kein wirksameres Mittel, um dem erstarkten Rechtspopulismus das Wasser abzugraben, als ein möglichst kraftvolles Mitte-links-Bündnis. Umgekehrt zeigt die FPÖ, dass eine auf Dauer angelegte Große Koalition solche Parteien stärkt, obwohl Rechtspopu­listen in Parlamenten keine Bäume ausreißen, sondern sich oft genug bis auf die Knochen blamieren.

Rot-Rot-Grün würde das Vermächtnis des früheren SPD-Vorsitzenden Willy Brandt einlösen, eine „Mehrheit diesseits der Union“ zu schaffen. Brandt ist es bei seinem grandiosen Wahlsieg 1972 gelungen, das gesamte politische und Parteienspektrum nach links zu verschieben. Bei dieser Herkulesaufgabe könnte sich die SPD-Führung an dem Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbin und dem demokratischen US-Senator Bernie Sanders orientieren, die mit gesellschaftskritischen Positionen einen Großteil der Jugend ihres Landes begeistert und eine gesellschaftliche Aufbruchstimmung erzeugt haben.

Wer bis drei zählen kann, weiß natürlich, dass Martin Schulz nur mit Unterstützung der Grünen und der Linken zum Bundeskanzler gewählt und sein erklärtes Ziel, mehr Gerechtigkeit zu schaffen, nicht mit den Unionsparteien oder mit der FDP verwirklicht werden kann. Grundvoraussetzung hierfür ist ein Projekt, das die Gesellschaft ähnlich stark bewegt wie Brandts Ostpolitik und seine Politik der inneren Reformen. Daraus resultierten eine Politisierung und Polarisierung der Öffentlichkeit, die alle Bürger zur Parteinahme zwangen und die Wahlbeteiligung auf eine Rekordhöhe trieben – 1972 betrug sie über 91 Prozent.

Seit der „Agenda 2010“ ihres letzten Bundeskanzlers Gerhard Schröder und den sogenannten Hartz-Gesetzen hat die SPD mehr als die Hälfte ihrer Stammwählerschaft unter den Arbeitern eingebüßt. Man kann in diesem Zusammenhang durchaus von einer wahlpolitischen Selbstamputation der Sozialdemokratie sprechen. Will diese das Vertrauen ihrer Stammwähler zurückgewinnen, muss die Partei deren materielle Interessen und das Grundbedürfnis nach sozialer Sicherheit ernst nehmen. Statt den Bismarck’schen Sozial(versicherungs)staat „um-“ beziehungsweise abzubauen, muss sie ihn aus- und umbauen, genauer: zu einer solidarischen Sozialversicherung weiterentwickeln.

SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Linke verbindet das Bekenntnis zu einer solidarischen Bürgerversicherung, die – auf alle ­geeigneten Versicherungszweige ausgedehnt – den Sozialstaat wieder auf ein festes Fundament stellen und sich als programmatische Plattform einer Mitte-links-Regierung eignen würde. Illusionen sind gleichwohl fehl am Platze: Sollbruchstellen für parlamentarische Heckenschützen gibt es genug, aber selbst wenn R2G eine Legislaturperiode überdauern würde, müsste außerparlamentarischer Druck dafür sorgen, dass die Koalitionspartner mächtigen Lobbygruppen standhalten und sich im Regierungsalltag nicht der neoliberalen Standortlogik ergeben. Eine solidarische Bürgerversicherung, die das Bindeglied einer rot-rot-grünen Koalition sein könnte, weil alle drei Parteien sie – wenn auch mit unterschiedlichen Akzentuierungen – im Programm stehen haben, ist z.B. ohne eine breite Bürgerbewegung nicht zu verwirklichen.

Um eine Mehrheit für SPD, Linke und Grüne zu schaffen, bieten sich zwei Strategievarianten an: ein Lagerwahlkampf oder ein Vorgehen nach dem Motto „Getrennt marschieren und später vereint schlagen!“. Bei der ersten Variante treten alle Partner von vornherein mit dem erklärten Ziel an, möglichst sofort nach der Wahlentscheidung eine Regierungskoalition zu bilden. Sie versuchen, die Bevölkerungsmehrheit für ein gemeinsames Projekt oder Regierungsprogramm zu gewinnen. Bei letzterer Variante konzentrieren sich die Parteien im Wahlkampf auf ihre eigene Klientel, wobei man den Koalitionswunsch offen- und das Ziel einer späteren Regierungsbildung bewusst im Dunkeln lässt.

Christoph Butterwegge

Foto: Wolfgang Schmidt

lehrte bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Zuletzt hat er das Buch „Armut“ (PapyRossa Verlag 2017) veröffentlicht.

Alternativkonzepte und Strategievarianten

Am Ende der laufenden Legislaturperiode haben SPD, Grüne und Linke nach einer Bemerkung von Angela Merkel in einem Husarenstück die Öffnung der Ehe für alle auf die parlamentarische Tagesordnung gesetzt. So wie die drei Parteien damit einem gesellschaftspolitisch progressiven Projekt zum Durchbruch verhalfen und die Republik ein Stück weit liberaler machten, könnten sie nach erfolgreicher Bundestagswahl die Öffnung der Sozialversicherung für alle umsetzen und das Land solidarischer gestalten, müssten sich jedoch vorher offen zu grundlegenden Veränderungen von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft bekennen.

Meinungsunterschiede und programmatische Gegensätze brauchen in einem Lagerwahlkampf nicht verschwiegen oder verschleiert zu werden, die Gemeinsamkeiten müssen aber in den Vordergrund gerückt werden. So könnte die SPD mit Blick auf Leistungsgerechtigkeit die Vorteile der Bürgerversicherung für Mittelschichtangehörige herausstellen, die Linke ihre Präferenz für Bedarfs- und Verteilungsgerechtigkeit erkennen lassen und der grüne Bündnispartner stärker die globale, Geschlechter- und Generationengerechtigkeit betonen.

Für jede R2G-Partei gibt es einen spezifischen Zugang, wenn sie das gemeinsame Projekt begründen will. Mit einer solidarischen Bürgerversicherung als Kerninstitution eines inklusiven Sozialstaates kann man Beschäftigte, „die hart arbeiten und sich an die Regeln halten“, genauso ansprechen wie Solo-Selbstständige und Kreative, die bisher ohne Absicherung bleiben, aber auch Transferleistungsbezieher, die überkommene Privilegien für Beamte und Angehörige berufsständischer Versorgungswerke ablehnen.