In sechs Sekunden zur Empathie

Performance Wie wir wurden, was wir sind – das chilenisch-deutsche Kollektiv Pink Valley lässt seine Gäste in „Zivilisierte Länder“ in ein humorvolles Nachdenken eintauchen, mitten im Trubel des Holzmarkt-Geländes

Gut, dass ein Kind den Überblick behält: Pink Valley mit Lukas im Vordergrund Foto: Philip Scholl

von Linda Gerner

„Auf einer Skala von eins bis drei – wie zivilisiert bist du?“, fragt eine junge Frau am Eingang und erntet verwirrte Blicke. Der Antwort entsprechend malt sie pinke Sterne auf den Unterarm der Gäste, dann teilt sie Kopfhörer aus. Pinke Sterne, ein Theater, das Ding Dong Dom heißt, und eine 180-Grad-Bühne. Der Abend verspricht interessant zu werden. Das Kollektiv Pink Valley begibt sich auf die Spurensuche der Zivilisation. Draußen am Spreeufer wird währenddessen Bier getrunken und Pizza gegessen.

Pink Valley – das sind Leicy Valenzuela, Valeria Germain und Nina Behrendt. Das Kollektiv gibt es seit 2010 und es hat einen Hang zu den großen Themen, wie etwa das Schicksal, Vergangenheit und Zukunft. Jetzt also eine Performance zur Zivilisation. „Was uns zivilisiert macht, ist Mitgefühl“, stellt Valenzuela als These auf. Freunde werden befragt, die Geschichte wird betrachtet und die eigene Position diskutiert. Die Performance biete den Gästen „einen Zwischenraum von Fragen und Antworten“, sagt Valenzuela – „aber immer mit Humor. Wir geben uns Mühe, uns nicht zu ernst zu nehmen“, ergänzt Behrendt grinsend.

Personen mit Kopfhörern

Wie so ein humorvoller Zwischenraum aussehen kann, zeigte die Generalprobe am Donnerstag. Das Holzmarktgelände in Friedrichshain war an diesem Sommerabend voll, Kinder sprangen auf dem Trampolin, ein Hund wälzte sich auf dem staubigen Boden. Gelächter füllte den Platz, alle unterhielten sich angeregt.

Alle? Nicht ganz. Vereinzelt saßen zwischen den plappernden Gruppen Personen mit Kopfhörern auf den Ohren. Sie hielten die Augen geschlossen und lauschten einer Stimme. Als Zuschauer gekommen, waren sie jetzt Protagonisten des Theaterstückes. Auf Anweisung der Stimme suchten sie sich mit den Augen eine Person in der Menge. Schauten sie an und fragten sich: „Wie geht es diesem Menschen? Hatte er eine stressige Woche? Was unterscheidet, was verbindet uns?“ Sechs Sekunden soll es dauern, bis wir Empathie für jemanden empfinden. So die Stimme im Kopfhörer.

Szenenwechsel: Die Performer nutzen ihre Biografien und die deutsche und chilenische Geschichte. In Deutschland und in Chile markierte das Jahr 1989 eine Zeit der Umbrüche. In Chile wurde der Diktator Augusto Pinochet im Oktober 1988 in einen Referendum abgewählt, im Dezember des Folgejahres gab es eine freie Präsidentschaftswahl. In Deutschland war die Mauer gefallen. Leicy Valenzuela und Valeria Germain aus Chile aus dem Pink Valley Team waren zu dieser Zeit Kinder, die deutsche Schauspielerin Nina Behrendt erlebte den Fall der Berliner Mauer als 7-Jährige.

Trotzdem verbindet Pink Valley dieses einschneidende Jahr. Fing nach der „schlechten Periode“ die Zivilisation der Länder an? „No, no, no!“, ruft der Chilene David Pino. Der Schauspieler floh 1985 aus seiner Heimat, weil dort Kulturschaffende verfolgt und ermordet wurden. Er kam nach Berlin und erlebte euphorisch den Fall der Berliner Mauer. Doch nur weil sich das System veränderte, verschwänden für ihn nicht die Fehler der Vergangenheit, sagt er.

Die Mauern auf- und abbauen, dass müssten schließlich Arbeiter wie er. Da ist es egal, wer gerade regiert. Sagt Alexander Maulwurf in seiner Rolle

Kritik vom Bauarbeiter

In der Performance führt Pino über eine symbolische Mauer hinweg ein Zwiegespräch mit Christa, der Mutter von Nina Behrendt. Die kam nach einem Jahr in Australien im August 1989 nach Berlin zurück. Die Umwälzungen in Deutschland überrumpelten sie, sie erfuhr sie als bedrohlich. Fallende Mauern, geplante Mauern, gedachte Mauern.

Warum suchen Künstler eigentlich immer in der Vergangenheit herum? Alexander Maulwurf übernimmt eine Rolle als Außenstehender und hart arbeitender Bauarbeiter, der die Performance parodiert, noch während sie läuft. Er nimmt ihr damit etwas die Schwere und schlägt die Brücke vom Mauerfall zur heutigen Zivilisation. Die Mauern auf- und abbauen, dass müssten schließlich Arbeiter wie er. Da ist es egal, wer gerade regiert.

Seine Kritik hat einen wahren Kern: Bei der rasanten, vielseitigen Performance kann man den Faden verlieren. Ein kurzweiliges Gitarrenintermezzo, dann wird gerannt, geturnt, gepöbelt. Geht es nicht ein bisschen zivilisierter? Waren wir nicht gerade noch bei Mauern, Chile und Zeitzeugen? Gut, dass ein Kind den Überblick behält: „Lukas, sag mal, worum geht es hier noch mal?“, fragt Leicy Valenzuela im Stück ihren Sohn. „Na um Empathie“, sagt dieser und grinst verschmitzt.

„Zivilisierte Länder“, am 12./13. August, 19 Uhr, Holzmarkt Ding Dong Dom (Holzmarktstraße 25, Berlin-Friedrichshain). Tickets unter: contact@pinkvalley.de. 12 €/erm. 8 €