Berühmte Orgeln: Wunder vom Lande

Das Land Niedersachsen will sie zum Weltkulturerbe erklären lassen. Aber was ist an den orgeln des Arp Schnitger eigentlich das Besondere?

Meisterwerk in der Dorfkirche: die gerade renovierte Schnitger-Orgel in St. Pankratius in Neuenfelde Foto: Miguel Ferraz

HAMBURG taz | Sie steht wie auf einem Deich. Als müsse sie als weithin sichtbares Seezeichen dienen, als Akupunkturpunkt der Landschaft. Dabei ist es beim Bau der barocken St.-Pankratius-Kirche in Hamburg-Neuenfelde schlicht um Hochwasserschutz gegangen wie in der ganzen Gegend – dem Alten Land und seinen seit 1140 von Niederländern eingedeichten Marschen, den Marschhufendörfern.

Was Wunder also, dass die neue, nach einem römischen Märtyrer benannte Kirche nach dem 30-jährigen Krieg auf derselben Sanddüne gebaut wurde wie ihre Vorgängerin. An einem Ort, an dem die Menschen bei Sturmflut Schutz suchten, auch 1962. Und sogar die jüngste Vergangenheit handelt vom Deichbau, wurde doch 2006 der mittelalterliche Ringdeich um den „Rosengarten“ für die umstrittene Verlängerung der Start- und Landebahn des nahen Airbus-Werks durchbrochen.

Heute steht die Kirche, Hort einer der schönsten erhaltenen Arp-Schnitger-Orgeln , fast in Sicht- und Hörweite des Airbus-Werks. Das Kirchlein steht allerdings verschattet hinter Bäumen – ein bisschen verwunschen wie das ganze Dorf: Da rekeln sich Katzen auf der (einzigen) Straße und fliehen nicht mal vorm Besucher, so selten kommt hier jemand her.

Dabei war das Dorf im 17. Jahrhundert Keimzelle einer bis heute verehrten Generation von Orgeln. Neuenfelde wurde, nach langen Hamburger Jahren, Heimstatt des Orgelbauers Arp Schnitger, der hier eine seiner vielen Orgelwerkstätten unterhielt, heiratete und in der Kirche begraben ist.

Arp-Schnitger-Festival beim Musikfest Bremen: 23.–27.8., www.musikfest-bremen.de

Wanderausstellung „Orgeln der Marschen“: 14. 8.–10. 9., St. Bartholomäus, Wesselburen, sowie 12.–17. 9., Marktkirche Hannover

Von 150 Orgeln gibt es noch 30

150 Orgeln haben Schnitgers in Bremen, Hamburg, Groningen, sogar Magdeburg gelegenen Werkstätten gebaut. Er hat Kirchen an der niedersächsischen Nordseeküste, in den Niederlanden, in England, Russland, Spanien, Portugal und sogar Brasilien beliefert, 30 von ihnen sind erhalten.

Allein für Hamburgs Hauptkirche St. Nikolai baute Schnitger, der 1719 mit 71 Jahren starb, die damals größte Orgel im deutschsprachigen Raum. Leider zerstörte der Große Hamburger Brand von 1842 das Instrument. Die Schnitger-Orgel von Hamburgs Jacobi-Kirche dagegen steht noch, die größte „im klingenden Bestand erhaltene“.

Und trotz all dieser pompösen Konkurrenz ist das Instrument im verschlafenen Neuenfelde etwas ganz Besonderes. Denn hier sind Kirchenraum und Instrument zu einem optischen und akustischen Gesamtkunstwerk verwachsen, das in Norddeutschland einmalig ist.

Das wichtigste Register: der Raum

„Die Raumakustik ist das wichtigste Register“, sagt Hilger Kespohl, seit 2007 Organist in Neuenfelde. Die meisten norddeutschen Kirchen seien akustisch problematisch, klängen hallig wie im Schwimmbad oder stumpf wie im Wohnzimmer.

In Neuenfelde ist das nicht so. Denn hier habe Schnitger bei der Raumgestaltung ein Wörtchen mitgesprochen, sagt Kespohl. Sicher, den Barock-Altar mit seinen pausbäckigen Puttenfigürchen, das Gemälde von Jesus als Weltenrichter, die Himmel-und-Hölle-Darstellungen an der gewölbten Decke: Das alles wurde ohne Schnitgers Zutun geplant. Aber zusätzlich die Kanzel mit geschnitzten Figuren zu verzieren, war Schnitgers Idee. Denn die verspielten barocken Verzierungen eignen sich exzellent zum Brechen des Schalls, ähnlich wie die weiße Haut von Hamburgs Elbphilharmonie. „Nur, dass das hier besser ist“, sagt Kespohl.

Er hat recht: Es klingt weder hallig noch dumpf, aber auch nicht so gnadenlos sezierend wie in der Elbphilharmonie, als er mal eben eine Toccata von Dietrich Buxtehude auf der großen, im zweiten Stock der Empore und also ganz besonders hoch platzierten Orgel spielt. Mal zart, mal majestätisch klingt das Stück, wechselt die Klangfarbe, zieht sprichwörtlich alle Register: hält sich mal näselnd zurück, trumpft dann wieder auf mit schweren Bässen.

Viel zu wuchtig für diesen kleinen Ort, denkt man, wenn man das von unten hört. Warum investierten die Neuenfelder Bauern 1688 ausgerechnet in diese Mammut-Orgel? Aus Dankbarkeit, aus Gottesfurcht, weil der 30-jährige Krieg endlich vorbei war? Als Prestigeobjekt, um vor anderen Gemeinden zu prunken? Man weiß es nicht, aber es ist berührend zu sehen, wie konsequent gottesfürchtig der Raum gestaltet ist: Die Decken-Engel mit den fantasievoll geschwungenen Trompeten über der Orgel illustrieren nicht mehr bloß die Bibel. Sie zelebrieren auch das Lob Gottes durch Musik.

Arbeit auch für Gotteslohn

Das passt. Schnitger war sehr gläubig und hat überhaupt vieles für Gotteslohn gemacht. „Er hat oft über den Auftrag hinaus gearbeitet und zusätzliche Register eingebaut, die er nicht immer bezahlt bekam“, sagt Kes­pohl. Manchen Gemeinden erließ er, einmal zu Wohlstand gekommen, die Kosten ganz oder gestattete langfristige Ratenzahlungen.

Auch in Neuenfelde steht „Gott allein die Ehre“ über der Tastatur der frisch restaurierten Orgel. Deren Gehäuse ist jetzt nicht mehr marmoriert wie nach der Restaurierung der 1950er-Jahre, sondern lässt, wie einst, die Holzmaserung durchscheinen. Pfeifen, Wellenleisten und Windladen wurden von Bleifraß und Schimmel befreit, sind repariert oder nachgebaut. „Es sollte möglichst authentisch sein“, sagt Krespohl.

Das ging so weit, dass Restaurator Kristian Wegschneider die Orgel nicht wie üblich ausbaute und mit in seine Dresdner Werkstatt nahm, sondern vor Ort bearbeitete. Alles wollte man original belassen – soweit das nach 300 Jahren, in denen immer mal etwas verändert wurde, möglich ist. Teil dieser Authentizität ist der leichte Schiefstand des hölzernen Gehäuses. „Die ganze Kirche hat sich im Laufe der Zeit gesenkt und verzogen“, sagt Kespohl. „Auch das Gehäuse ist nicht mehr lotrecht, und das sollte so bleiben.“

Dabei ist es für den Klang gar nicht wichtig, ob das Gehäuse gerade steht oder schief. Und überhaupt würde Kespohl mit verbundenen Augen nicht heraushören, ob er eine Schnitger-Orgel vor sich hätte. Aber wenn er die Pfeifen anfassen darf, spürt er es – am besonders dicken Material und der Form der Pfeifen.

Wenn aber gar kein typischer Schnitger-Klang existiert – was ist dann so besonders an Schnitger, dass Niedersachsen die Orgeln sogar auf die Welterbe-Liste setzen will? „Die Qualität der Schnitger-Orgeln war sowohl handwerklich als auch klanglich besser als bei den Mitbewerbern“, sagt Kespohl. Wobei Schnitger nicht alles persönlich gemacht habe, „da herrschte eine hohe Arbeitsteilung“. Zudem sei Schnitger für eine zuverlässige Auftragsabwicklung bekannt gewesen. Das sei bei den Kollegen nicht immer so gewesen.

Das Alleinstellungsmerkmal Schnitgers aber erwähnt Kespohl, weil es ihm so selbstverständlich ist, irgendwann zwischendurch: Schnitger sei ein Meister im Erfinden und Zusammenstellen immer neuer Klangfarben gewesen. „Keine Schnitger-Orgel ist wie die andere. Jede hat andere Register, und das ergibt immer neue Klangnuancen“, sagt der Kirchenmusiker, der auch an der Bremer Hochschule für Künste lehrt. „Was hier in Neuenfelde Spitzflöte heißt, ist woanders eine Hohl- oder Rohrflöte“, sagt er. „Da war Schnitger unglaublich kreativ und hat auch technisch viele verschiedene Lösungen und Bauformen ausprobiert.“

Jede Orgel ein individuum

Das macht jede Orgel zu einem Individuum, auf dem bestimmte Stücke besonders gut klingen. Hinzu kommt, dass alle norddeutschen Barockorgeln – auch Schnitgers – weniger Tasten und damit einen kleineren Tonumfang haben als etwa die mitteldeutschen Orgeln, für die Bach komponierte. Weshalb Stücke der „Norddeutschen Orgelschule“ etwa von Heinrich Scheidemann, Vincent Lübeck, Dietrich Buxtehude auf diesen Orgeln gut klingen, Bach nur zum Teil und Modernes gar nicht.

„Werke von Olivier Messiaen oder Max Reger könnte ich hier nicht spielen“, sagt Kespohl. „Auch deshalb, weil diese Orgel kein hohes Tempo erlaubt.“ In der Tat: Die Tasten sind schwergängig, bewegen sich zögerlich, wenn man darauf drückt – und kommen in Zeitlupe wieder hoch. Das war zu Schnitgers Zeiten so und ist es heute wieder, das entspricht der historischen Aufführungspraxis.

Stört das nicht den Flow? Nein, sagt Kespohl, es gewöhne einem die Hektik ab und bringe einen runter. „Diese schwergängigen Tasten erinnern mich immer daran: Moment mal, du bist in einer großen Kirche. Spiel nicht zu schnell. Um exakt zu spielen und gut zu artikulieren, muss ich richtig arbeiten, muss jeden Ton einzeln rausmeißeln“, sagt der Organist.

Hilger Kespohl liebt dieses Instrument, Neuenfelde ist seine Lieblingskirche mit ihrem besonders homogenen Raumerlebnis und diesem speziellen, vielfältigen Klang. Genauer beschreiben möchte er den nicht. Ganz so, als habe er Angst, den anderen Schnitger-Orgeln weh zu tun.

Mehr zur Arp Schnitger, seinen Spuren am anderen Ende der Welt und seinen Konkurrenten finden Sie in der aktuellen taz.am wochenende oder hier.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.