Ein Irrtum regiert die Welt

Finanzkasino von Ulrike Herrmann Wie die falsche Theorie David Ricardos bis heute den Freihandel begründet

Ulrike Herrmann

Foto: Amélie Losier

ist ausgebildete Bankkauffrau und hat an der FU Berlin Geschichte und Philosophie studiert. Ihr neuestes Buch erschien 2016: „Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie oder Was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können“ (Westend).

Es ist ein zweifelhaftes Jubläum: Vor zweihundert Jahren entstand jene Theorie, die bis heute alle Debatten rund um den Freihandel dominiert. Der Börsenspekulant David Ricardo postulierte 1817, der schrankenlose Warenverkehr sei immer eine Win-win-Situation.

David Ricardo war ein Genie. Er wurde 1772 in der City of London geboren, als drittes von 17 Kindern. Sein Vater Abraham war bereits Börsenspekulant gewesen, aber sein Sohn überholte ihn bald: Als David Ricardo 1823 an einer Mittelohrentzündung starb, gehörte er zu den 500 reichsten Männern Großbritanniens und hinterließ das gewaltige Vermögen von 700.000 Pfund, was heute einer Kaufkraft von etwa 400 Millionen Pfund entsprechen würde.

Begeisterte Liberale

Vor allem der Krieg gegen Napoleon hatte Ricardo reich gemacht: Er garantierte die Militärdarlehen der britischen Regierung – und spekulierte 1815 auf einen Sieg in der Schlacht von Waterloo. Nachdem diese größte Wette seines Lebens aufgegangen war, setzte sich Ricardo mit 43 Jahren zur Ruhe. Er verließ die Börse, investierte sein Vermögen in Ländereien und führte fortan ein Leben, wie es sich sonst nur Adelige leisten konnten. Er zog sich auf das prächtige Gut Gatcombe Park zurück, das heute Prinzessin Anne, der Tochter von Königin Elisabeth II., gehört.

In seinen letzten Lebensjahren arbeitete Ricardo an seinem Hauptwerk, das 1817 erschien und den etwas sperrigen Titel „Die Prinzipien der politischen Ökonomie und der Besteuerung“ trägt. Ein Großteil dieses Buches ist überholt, doch für einen Aspekt begeistern sich die Liberalen bis heute: Ricardos Theorie der „komparativen Kostenvorteile“ fehlt in keinem Wirtschaftslehrbuch, um die Segnungen des Freihandels zu erläutern. Der Siegeszug dieser Theorie ist beispiellos in der Ökonomiegeschichte: Kein anderes Rechenbeispiel ist in den vergangenen zweihundert Jahren so oft zitiert worden.

Ricardo selbst hätte vermutlich nie erwartet, dass er ausgerechnet mit seiner Theorie der „komparativen Kostenvorteile“ weltberühmt werden würde. Sie macht nur zwei Prozent seines Buches aus, wie Wirtschaftshistoriker akribisch nachgerechnet haben. Auch ist Ricardo nie wieder auf diese Idee zurückgekommen – weder in anderen Schriften noch in seiner umfangreichen Korrespondenz.

Ricardos Theorie ist so wirkungsmächtig geworden, weil er genau die richtige Frage gestellt hat: Warum tauschen Länder Waren aus, die sie auch selbst herstellen könnten? Um in die Jetztzeit zu springen: Warum exportiert Deutschland Chemikalien in die USA – während gleichzeitig auch die USA Chemikalien nach Deutschland liefern?

Ricardo entwickelte eine Antwort, die bestechend schien. Die Basis war ein Gedankenexperiment: Portugal und England können beide sowohl Portwein als auch Textilien herstellen. England kann jedoch Portwein und Textilien billiger produzieren als Portugal. Zugleich ist die englische Produktivität bei der Tuchherstellung höher als beim Weinanbau. In diesem Fall wäre es für England vorteilhaft, nur Textilien herzustellen und den Portugiesen die Portwein-Produktion zu überlassen, obwohl die Engländer den Portwein eigentlich billiger herstellen könnten als die Portugiesen. Denn der maximale Profit entsteht, wenn man sich auf jene Geschäftszweige konzentriert, bei denen die eigene Produktivität am höchsten ist.

Ricardos Theorie der komparativen Kostenvorteile ist charmant, weil sie mathematisch absolut sauber ist. Es galt also als bewiesen, dass der Freihandel eine Win-win-Situation für alle beteiligten Länder darstelle. Doch trotz dieser höheren Weihen durch die Mathematik schien die Theorie nicht zu stimmen: Schon Ricardos Zeitgenossen fiel auf, dass England immer reicher wurde – während das ärmere Portugal stagnierte.

Mathematik und Empirie fielen also auseinander. Aber wieso konnte der Freihandel schädlich sein, wenn er sich formal begründen ließ? David Ricardos Theorie krankte an einem Phänomen, das sich in der Mainstream-Ökonomie sehr häufig beobachten lässt: Alle Mathematik nutzt nichts, wenn die Annahmen falsch sind. Dann hat man zwar ein schönes Modell gebaut, aber leider rutscht das Fundament weg.

Zunächst einmal: Ricardos Win-win-Analyse funktioniert nicht für Entwicklungsländer wie das damalige Portugal, weil es ein Modell ohne Wachstum ist. Auch gilt es nur, wenn in allen beteiligten Ländern Vollbeschäftigung herrscht. Zudem ging Ricardo explizit davon aus, dass die Industrie nicht abwandere. Ihm wäre niemals in den Sinn gekommen, dass eine deutsche Autofabrik ein Werk in China aufmacht, weil dort die Löhne niedriger sind.

Das Dilemma wird ignoriert

Wenn der Freihandel also nicht unbedingt vorteilhaft ist – sollte man lieber auf den Protektionismus setzen? Auch dies scheint zumindest für hochentwickelte Industrieländer keine gute Idee zu sein, wie man spätestens seit der Amtszeit von US-Präsident Ronald Reagan weiß, der von 1981 bis 1989 regierte.

Kein anderes Rechen­beispiel ist in den vergangenen 200 Jahren so oft zitiert worden

Reagan störte sich damals an den japanischen Exporterfolgen, sodass Japan zu der „freiwilligen“ Vereinbarung gezwungen wurde, 8 Prozent weniger Autos zu liefern. Reagan hatte sich vorgestellt, dass die US-amerikanischen Autokonzerne diese Lücke füllen würden. Doch stattdessen senkten die Firmen ihre Produktion und erhöhten die Preise.

Um 1.000 Dollar wurden die amerikanischen Pkws im Durchschnitt teurer. Gleichzeitig nahm die Autoproduktion in den USA um 300.000 Stück ab, wie die Denkfabrik Brookings damals ermittelte – sodass 32.000 Jobs verloren gingen.

Freihandel ist also nicht immer die beste Lösung, und Protektionismus führt zu Monopolgewinnen. Statt nach einem „dritten Weg“ zu suchen, wird dieses Dilemma von den meisten Ökonomen einfach ignoriert, indem sie die falsche Theorie von Ricardo zitieren.

Ricardo selbst kann nichts für seinen Irrtum: 200 Jahre später ist es immer leicht, schlauer zu sein. Er hat Fragen gestellt und nach Antworten gesucht. Genau diese Neugier fehlt leider vielen heutigen Ökonomen.