Delmenhorsts jüdische Gemeinde wird 20: Auferstanden aus der Schoah

Die jüdische Gemeinde von Delmenhorst feiert den 20. Jahrestag ihrer Neugründung – in der Markthalle, wo jüdisches Raubgut verkauft und versteigert wurde

Seltenheitswert: Alina Treiger ist eine von nur sechs aktiven Rabbinerinnen in Deutschland Foto: Kay Michalak/Fotoetage

DELMENHORST taz | Religion ist großes Kino. Vor allem in Delmenhorst. Wer dort zur jüdischen Gemeinde gehört, nimmt samstags in gut gepolsterten Klappsesseln Platz. Die Synagoge ist im früheren Filmsaal der Volkshochschule untergebracht. Ungewöhnlich ist auch, dass der Gottesdienst von einer Frau geleitet wird. Am Sonntag feiert die kleine und auf ihre Art sehr besondere Gemeinde ihr 20-jähriges Bestehen.

„Das war richtig viel Arbeit“, sagt Pedro Becerra – und meint damit nicht den mühsamen Gemeindeaufbau, sondern schaut stolz auf seine Kinosessel. Die mussten von den Gemeindemitgliedern aufwendig aufgearbeitet und um 180 Grad gedreht werden, damit in die richtige Richtung gebetet wird. Denn bei aller Lockerheit in vielen Dingen: Ohne Orientierung gen Osten, nach Jerusalem, geht auch in Delmenhorst nichts.

Es gibt noch einen anderen Osten, neben dem spirituell definierten, der für die Gemeinde essenziell ist: den Ostblock – respektive dessen Auflösung Anfang der 90er-Jahre. Becerra, der Vorsitzende der Gemeinde, ist zwar Deutsch-Chilene, doch seine Gemeinde besteht zu 90 Prozent aus Auswanderern aus den GUS-Nachfolgestaaten.

Dass auch in anderen kleineren oder mittelgroßen Städten wie Hameln oder Hildesheim 20. oder 25. Gründungsjubiläen gefeiert werden, ist kein Zufall: Nur in den Großstädten gab es nach 1945 eine ausreichende Zahl von Überlebenden und Heimgekehrten, um Gemeinden gründen zu können. Oder es gab, wie in Oldenburg, Neugründungen, die wegen des hohen Alters der Beteiligten aber nur wenige Jahre Bestand hatten – bis sich der Osten öffnete.

■ Das Jüdische Leben in Delmenhorst beginnt mit den Dänen: Unter ihrer Herrschaft kann sich Levin Lazarus 1695 als sogenannter „Schutzjude“ an der Delme ansiedeln. Wegen des Widerstandes des Magistrats wächst die Gemeinde nur sehr langsam, 1793 werden 20 jüdische Einwohner gezählt.

■ 1838, bei der Synagogen-Einweihung, kann der Gemeindevorsteher jedoch stolz erklären: „In unserer Stadt ist vollends der Religionshass, woran manches Land noch laboriert, geschwunden.“

■ Hundert Jahre später brennt die Synagoge in der Kramerstraße, bis 1940 werden alle jüdischen Einwohner*innen deportiert.

■ Nach der Neugründung 1997 erreicht die Gemeinde mit rund 190 Mitgliedern wieder ihre Vorkriegs-Größe. Der Zuzug aus dem ehemaligen Ostblock hat eine historische Parallele: Schon Ende des 19. Jahrhunderts wuchs die Gemeinde entscheidend durch sogenannte „Ostjuden“, die in der Delmenhorster Indus­trie Arbeit fanden.

Auch Alina Treiger, die Delmenhorster Rabbinerin, stammt aus dem Osten. Sie ist Ukrainerin. Den Gottesdienst hält sie auf Deutsch, „mit russischen Zusammenfassungen“, wie sie hinzufügt. Ist es für eine Predigerin nicht problematisch, wenn die Zuhörerschaft zu bequem sitzt, zum Beispiel in Kinosesseln? „Das habe ich anfangs auch befürchtet“, sagt Treiger. Allerdings: „Jüdische Prediger dürfen alles, nur nicht länger als zehn Minuten reden.“ Und in dieser Zeitspanne sei noch niemand eingeschlummert.

Treiger ist eine von nur sechs Rabbinerinnen, die in Deutschland aktiv sind. Doch für die Gemeinden in Delmenhorst und Oldenburg, die sich die Geistliche teilen, ist es der Normalfall. Sie hatten schon zuvor eine Frau angestellt, was große Turbulenzen auslöste: Bea Wyler, Treigers aus der Schweiz stammende Vorgängerin, wurde die Aufnahme in die Deutsche Rabbinerkonferenz verweigert. Ignatz Bubis, der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, erklärte öffentlich: Niemals werde er einen von Wyler geleiteten Gottesdienst besuchen. Das taten dafür andere.

Die Gemeinden in Delmenhorst und Oldenburg sind mittlerweile auf zusammen gut 500 Mitglieder angewachsen. Bei Treigers Ordinationsfeier 2011 waren die Präsidentin des Zentralrats, Charlotte Knobloch, und der Bundespräsident dabei. Immerhin handelte es sich um die zweite Ordination einer Rabbinerin in Deutschland – und die erste nach der Schoah. Regina Jonas, Treigers historische Vorgängerin, wurde 1944 in Auschwitz ermordet.

Wenn Treiger predigt, schaut sie in Richtung hoher Bücherregale. Denn dort, wo früher die Kinoleinwand hing, ist ein Teil der Gemeindebibliothek untergebracht. Es ist in diesem Fall etwas Besonderes, dass die Gemeinde ihre Bibliothek als öffentliche Einrichtung betreibt. Neben den russischsprachigen Beständen, 3.500 Bände, wird derzeit vor allem in deutsche Medien investiert: „Wir wollen“, betont Becerra, „Brücken zu unserer nichtjüdischen Nachbarschaft schlagen.“

Die Bibliothek ist eine niedrigschwellige Gelegenheit vorbeizuschauen – und neben den medialen Angeboten auch die anderen Aktivitäten im Musik- und Theaterbereich wahrzunehmen. Mit ihren Sprachkursen integriert die Gemeinde wiederum Geflüchtete, oftmals aus muslimisch geprägten Ländern.

Becerra ist ein Vorsitzender, der die Gemeinde sehr aktiv vertritt – auch gegen rechts, wozu es in Delmenhorst leider reichlich Gelegenheit gibt. Um etwa die AfD-Ratsherren nicht bei Pogrom-Gedenken ertragen zu müssen, erteilte er ihnen prophylaktisch Hausverbot auf dem jüdischen Friedhof. Und als die in Delmenhorst ansässige islamistische Organisation „Die Feder“ kürzlich in Bremen über das Existenzrecht Israels „abstimmen“ lassen wollte, war die Gemeinde beim Protest präsent.

Becerras Klarheit in Sachen „klare Kante gegen rechts“ hat auch biografische Gründe. Er hat den Faschismus am eigenen Leib erfahren: im Chile der Pinochet-Diktatur, wo er als Mitglied der kommunistischen Jugendorganisation im Gefängnis misshandelt wurde.

Seit ihrer Gründung 1997 leitet Becerra die Gemeinde. Er organisierte auch das Domizil in den ehemaligen Räumen der Volksschule beim Bahnhof, schräg gegenüber vom Delmenhorster Freimaurerhaus mit den Logen „Lessing an der Delme“ und „Horst zu Beständigkeit“.

Die ursprüngliche Synagoge gibt es noch, trotz der Brandstiftung 1938. Das stattliche Gebäude mit dem charakteristischen, durch drei Eingangsbögen gegliederten Portal, steht in der Kramerstraße, wird aber als Wohnhaus genutzt. Die Restitution nach 1945 scheiterte unter anderem an Kriegsanleihen, mit denen die Gemeinde 1914 ihre Immobilien belastet hatte.

„So patriotisch waren die damals“, sagt Becerra trocken. Die historischen Schulden galten als Hinderungsgrund für eine Rückgabe. Allerdings gab es nach dem Krieg nur noch wenige Menschen, die sich um das Schicksal ihrer Synagoge hätten kümmern können. Nur drei Delmenhorster Juden kehrten nach 1945 in ihre Stadt zurück.

Das Jubiläum ihrer Neugründung feiert die Gemeinde an einem sehr spezifischen historischen Ort: in der Delmenhorster Markthalle. In den 1940er-Jahren fanden dort Versteigerungen und Verkäufe von jüdischem Besitz statt. Der stammte nicht nur von den Mitgliedern der Delmenhorster Gemeinde: Mit seinem Güterbahnhof und den gewaltigen Hallen der Deutschen Linoleum-Werke zählte Delmenhorst zu den Hauptumschlagplätzen für jüdisches Raubgut aus den Benelux-Ländern.

Von 1942 bis 1944 trafen, ausweislich des „Leistungsberichts“ der mit dem Raubzug beauftragten „Dienststelle Westen“, 3.260 Eisenbahnwaggons voller jüdischen Hausrats in Delmenhorst ein. Vieles wurde regional weiterverteilt – in solchen Mengen, dass der Gauleiter im Januar 1943 „die weitere Anlieferung“ zunächst stoppen ließ. Betagte Delmenhorster*innen erinnern sich noch heute, dass in den kalten Wintern die Möbel verheizt wurden.

Dass die Gemeinde ausgerechnet an einem Ort der rassistischen „Verwertung“ ihr Gründungsjubiläum feiert, ist ein historischer Zufall. Kein Zufall ist hingegen, dass er passieren kann: Die Geschichte der jüdischen Beraubung sollte systematisch vergessen werden.

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