Venezuela

Blutkonserven, Medikamente, Bohnen, Maismehl, Reis: Alles ist knapp im Land von Präsident Nicolás Maduro. Für die „Bolivarische Revolution“ des Hugo Chávez haben die meisten VenezolanerInnen nur noch Spott übrig

Regierungsnahe Versammlung kapert Parlament

Machtkampf Die Opposition war dem Präsidenten lange ein Dorn im Auge. Sein undemokratischer Schachzug verschärft die politische Krise in Venezuela – und isoliert das Land in der Welt

Chavismus

„Die Sozialmaßnahmen, für die Chávez auf der ganzen Welt gelobt wurde, haben ihren ursprünglichen Sinn verloren. Heute sind sie Waffen in den Händen der Mächtigen“

Alfredo Infante, Jesuitenpfarrer im Armenviertel La Vega

CARACAS taz | Wie ein Denkmal, das an besserer Zeiten erinnern soll, steht im Herzen von Caracas ein Hochhaus, auf dem in riesigen Lettern zwei Wörter zu lesen sind: Asamblea Nacional. Seit vergangenem Freitag ist das venezolanische Parlament Geschichte. Die frisch gewählten regierungstreuen Vertreterinnen und Vertreter der Verfassunggebenden Versammlung haben an diesem Tag ein Dekret verabschiedet, das ihnen alle gesetzgeberischen Vollmachten zuspricht.

Es war der letzte Schritt, mit dem die Regierung des Präsidenten Nicolás Maduro das mit einer Zweidrittelmehrheit von der Opposition dominierte Parlament entmachtet hat. Alle Angelegenheiten zum „Schutz des Friedens, der Sicherheit, der Souveränität, des sozioökonomischen und finanziellen Systems, des Staatseigentums und des Vorrangs der Rechte der Venezolaner“ unterstehen jetzt der Verfassunggebenden Versammlung. Während Maduro von einer „Abstimmung für die Revolution“ sprach, klassifizierte das im Dezember 2015 gewählte Parlament die Wahl als Staatsstreich. „Das ist ein schwarzer Tag, der von den krankhaften Ambitionen einer einzigen Person verursacht wurde“, kritisierte Oppositionsführer Henrique Capriles.

Die mit 545 Vertretern besetzte Versammlung besteht ausschließlich aus regierungstreuen Mitgliedern. Die Opposition boykottierte die Wahl, die von schweren Betrugsvorwürfen begleitet war. Nach offiziellen Angaben sollen sich über acht Millionen Menschen an der Stimmabgabe beteiligt haben. Kritiker gehen davon aus, dass maximal die Hälfte tatsächlich gewählt hat. „Es kann nicht sein, dass der immer unpopulärer werdende Maduro mehr Zustimmung erhält als sein Vorgänger Hugo Chávez in seinen besten Zeiten“, erklärt Inti Rodríguez von der Menschenrechtsorganisation Provea der taz. Auch aus dem Ausland kam Kritik: Die USA, verschiedene europäische und lateinamerikanische Staaten erkennen das neue politische Gremium nicht an.

Warum, das zeigte sich kurz nach der Wahl: Das Ersatzparlament ergriff erste Maßnahmen gegen oppositionelle Politiker. Mehrere Bürgermeister wurden des Amts enthoben, auch die kritische Generalstaatsanwältin Luisa Ortega wurde entlassen. Die Juristin hatte die Wahl als verfassungswidrig bezeichnet.

Ortega gehört lange Zeit selbst zur Nomenklatur im sozialistischen Venezuela und trug die Regierungspolitik mit. Sie brach erst dann mit Maduro, als der Oberste Gerichtshof im März dem Parlament vorübergehend wichtige Kompetenzen entzog. Als der Präsident eine Verfassunggebende Versammlung bilden und die Abgeordneten endgültig entmachten ließ, überwarf sie sich vollends mit der Regierung.

Mittlerweile ist die entlassene Staatsanwältin ins benachbarte Kolumbien geflohen. Am vergangenen Freitag landete sie gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Abgeordneten Germán Ferrer, in der Hauptstadt Bogotá. Die dortige Regierung, die Venezuela offen kritisiert, hat Ortega vollen Schutz zugesichert. „Wenn Frau Ortega Asyl beantragt, werden wir es ihr gewähren“, schrieb der kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos am Montag auf Twitter. Senatspräsident Efraín Cepeda lud die Staatsanwältin ebenfalls per Twitter ein, die kolumbianische Regierung bei einer ihrer Plenarsitzungen am Dienstag zu besuchen.

In den Monaten vor der Abstimmung über die Versammlung war es in zahlreichen Städten des Landes zu schweren Auseinandersetzungen gekommen, bei denen sowohl Regimekritiker als auch Befürworter der Regierung brutal gegeneinander vorgingen. Auch mit einem Generalstreik versuchte die Opposition, die Wahl zu verhindern. Insgesamt sind bei den Kämpfen mehr als 120 Menschen gestorben. Am Wahltag selbst kamen mindestens zehn Personen ums Leben. Frieder Karlow