Der Wahlkreis, der am Sonntag ruht

„Bist du auch ein Schicksalswähler?“ Inzwischen bringt man in Dresden mit dieser Begrüßung niemanden mehr zum Lachen, seit die Stadt in Allerweltswähler und solche geteilt ist, die möglicherweise über Aufstieg oder Untergang der Nation entscheiden.

Wie ein Tempelbezirk erscheint der bekannteste Wahlkreis der Republik mit der Nummer 160 auf dem Stadtplan, umkragt und beinahe bildlich in die Zange genommen vom völlig bedeutungslosen Wahlkreis 161. Als Grenzen dieses Bezirks erlangen die Flüsse Elbe und Weißeritz nach ihrem Hochwasser von 2002 erneut Weltbedeutung.

Wohnsitze stiften nicht nur auf geteilten Straßen Verwirrung. Die linke Spitzenfrau Katja Kipping beispielsweise wählt schon an diesem Sonntag im 161er, kandidiert aber am 2. Oktober im ominösen 160er Wahlkreis. Nicht ganz chancenlos. Denn der Vorsprung der hier gewählten CDU-Direktkandidaten wurde von Wahl zu Wahl geringer. 33,8 Prozent mussten 2002 Christa Reichard reichen, um in den Bundestag einzuziehen. Bei den Zweitstimmen lag sogar die SPD mit 32,9 Prozent vorn.

Das „Rote Nest“ dürfte auch bei dieser Wahl in der Inneren Altstadt liegen, am Rande des touristenüberlaufenen Barockidylls also. Hier an Dresdens Stalinallee, heute wieder Wilsdruffer Straße, und um den Altmarkt herum wohnt noch mancher Professor oder Verdienter Künstler des Volkes mit abgelegtem Parteibuch, der gar nicht anders kann, als sozialistisch zu wählen. Oder, wie vor drei Jahren in Vor-Agenda-Zeiten, eben doch zur SPD überzulaufen.

Das Wahlergebnis 2002 konnte auch illustrieren, wie sehr die Grünen inzwischen die edelherzig Besserverdienenden repräsentieren. Neben der Neustadt-Szene hatten sie ausgerechnet in den Villenvierteln Striesen und Blasewitz mit den höchsten Dresdner Mieten ihre Hochburg. Ein Stück weiter südöstlich folgt dann wieder ein schroffer Milieukontrast. Das Plattenbauviertel Prohlis neigte eher zur PDS und favorisierte deutlich die SPD. Hier wird der mögliche Kampf um den Endsieg mit Sicherheit vom Kampf gegen den beabsichtigten Totalverkauf des städtischen Wohnungsunternehmens Woba überlagert werden.

Bleiben noch die Dresdner Bergbewohner an den Südhängen von Coschütz oder Gittersee, wo schon zu DDR-Zeiten wahre Antennenskulpturen das Westfernsehen ermöglichten. Das scheint im CDU-Bonus nachzuwirken. Glaubt man jedoch den Friseuren – und die sind informierter als die Demoskopen –, dann wählt ganz Dresden SPD, bloß um Angela Merkel zu verhindern.

MICHAEL BARTSCH