„Für die CDU beginnt bis zur Wahl ein Wettlauf mit der Zeit“

Das bleibt von der Woche Die doppelte Tegel-Kehrtwende der CDU gerät endgültig zur Farce, ein neues Lichtspielhaus elektrisiert die Filmfans, der Regierende Michael Müller kommt doch nicht auf eine „Antisemiten-Liste“, und in Neukölln sorgt eine prügelnde Vollverschleierte für Furore

Populismus will gelernt sein

CDU zu Tegel

Dass die Berliner CDU auf "Schlingerkurs" ist, ist noch eine Untertreibung

Für die Schließung, gegen die Schließung – und nun seit Wochenbeginn zumindest gespalten oder nur noch fürs zeitweilige Festhalten am Flughafen Tegel: Die Berliner CDU ist seit Jahresbeginn luftfahrtmäßig auf einem Weg unterwegs, für den der Begriff „Schlingerkurs“ eine milde Untertreibung ist.

Mit viel, nein, sehr viel Wohlwollen ließ sich das erste Umdenken noch nachvollziehen. Denn ja, die Rahmenbedingungen haben sich durchaus geändert seit Berlin, Brandenburg und die Bundesregierung sich 1996 darauf verständigten, nach der Eröffnung jenes neuen Flughafens, der später mal unter dem Kürzel BER bekannt werden sollte, alle anderen Berliner Flughäfen zu schließen. Viele Millionen mehr Fluggäste starten und landen in Berlin beziehungsweise Schönefeld als damals prognostiziert.

Zu bezweifeln, dass der BER das ohne Anbauten stemmen kann, war nichts komplett abwegig. So ließ sich zumindest ein bisschen bemänteln, dass im Kern reiner Populismus zur Kehrtwende führte: Man sah bei der CDU den großen Zulauf beim Tegel-Volksbegehren, wollte schlicht nicht allein die FDP davon profitieren lassen und startete einen Mitgliederentscheid, der absehbar den U-Turn legitimierte.

Dass sich nun kurz vor dem Volksentscheid am 24. September die, neben der CDU-Landesvorsitzenden Monika Grütters, fünf bekanntesten Gesichter der Partei allesamt kritisch oder einschränkend zum Offenhalten äußern, macht das ganze zur Farce. Es hat natürlich immer Charme, wenn einer auch gegen eine Parteimehrheit bei seiner Meinung bleibt oder fähig ist, sie zu überdenken. Mit Blick auf die Bundestagswahl ist es aber ein Desaster für die CDU. Denn wer seine Wahlentscheidung von einem Weiterbetrieb in Tegel abhängig macht, stimmt im Zweifelsfall für die Partei mit dem Copyright dafür, nämlich die FDP. Und wer Tegel schließen will, hat einen Grund mehr, statt CDU lieber Grüne oder SPD zu wählen.

Dass Landeschefin Grütters am Mittwoch ausdrücklich an Tegel festhielt, ist logisch, denn ihr blieb nichts anderes über: Eine Parteivorsitzende, die plötzlich einen Mitgliederentscheid ignorierte, wäre die längste Zeit Vorsitzende gewesen. Für die CDU wird es nun ein Wettlauf mit der Zeit: Die Stimmung, lange klar pro Offenhalten, ist dabei zu kippen, und je mehr das passiert, desto mehr Stimmen dürfte das die Christdemokraten kosten.

Stefan Alberti

Träumen vom Glanz der alten Zeit

Neues Kino am Ku'damm

Wann werden Kinobesucher zu einer kurzzeitigen Schicksalsgemeinschaft?

Manche halten die Idee, ein Kino zu eröffnen, für so absurd wie eine Videothek zu betreiben oder eine Zeitung drucken zu lassen. Trotzdem hat am Donnerstag Berlins jüngstes Lichtspielhaus eröffnet, und da das ausgerechnet an der einstigen Kinomeile rund um den Bahnhof Zoo passierte, sind viele elektrisiert: Ist das Delphi Lux der Yorck-Gruppe der Neubeginn einer wunderbaren Freundschaft zwischen Cineasten, Kinobetreibern und der City West?

Um die Frage zu beantworten, lohnt sich ein Vergleich. Sieben streng geschnittene und meist monoton illuminierte Säle hat das Lux. Es bietet Platz für etwa 600 Menschen und ist damit so etwas wie die ungleiche kleine Schwester des großen Delphi gleich nebenan mit seinem einzigen Saal mit knapp 700 Plätzen, betrieben ebenfalls von der Yorck-Gruppe. Die beiden Geschwister sind so unterschiedlich, wie es nur geht – abgesehen vom Programm: In beiden laufen in der Regel Arthouse-Filme.

Beide Häuser stehen für eine bestimmte Art des Kinos: hier, im Delphi, der weite Raum, die Aura der großen alten Zeit, als Filme noch auf Rollen kamen, die riesige Leinwand. Kino als Erlebnis, auch als Zeitreise. Dort, im Lux, das pragmatische Angebot: viel Auswahl auf wenig Raum, weitläufig bestuhlt, aber trotzdem irgendwie gefühlt eng.

Für welches der beiden man sich entscheidet, hängt letztlich daran, ob es einem um den konkreten Film geht oder um das Erlebnis Kino. Beides, wäre eine häufige Antwort. Aber das geht immer seltener, weil die Häuser mit nur einem großen Saal schwer zu bewirtschaften sind.

„Kinokultur ist, wenn einem das Kino zum Träumen bringt, und das nicht allein, sondern mit Fremden“, hat Yorck-Geschäftsführer Christian Bräuer beim Festakt (ja den gab es: im großen Delphi, nur dort war genug Platz) zur Eröffnung des Kinos am Mittwochabend gesagt. Doch wie viele Fremde müssen es sein, die mitleiden, mitweinen, mitlachen? Wann werden Kinobesucher zu einer kurzzeitigen Schicksalsgemeinschaft?

Wenn der Film gut ist und der Laden voll. Wobei Ersteres oft Voraussetzung ist für Letzteres. Das neue zusätzliche Angebot bringt der City West nur was, wenn es dafür genügend gute Filme gibt. Bert Schulz

Die Drohung allein war schon genug

Antisemiten-Liste

Seine Koalitionspartner, Linke und Grüne, stürzt der Regierende in ein Dilemma

Die Drohung hat gewirkt. Allein die bloße Aussicht, auf der lächerlichen „Top Ten der Antisemiten“-Liste des rechten Simon-Wiesenthal-Centers zu landen (dessen Gründer Marvin Hier zu Trumps Amtseinführung seinen Segen gab), hat den Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD) einknicken lassen: Nach einem Treffen mit dem Zentralrat der Juden am späten Mittwochabend ließ Müller mitteilen, dass Gruppen oder Veranstalter, die einen Is­rael­boykott unterstützen, in Berlin künftig weder öffentlich geförderte Räume noch öffentliche Zuschüsse mehr erhalten sollen. Damit kommt er einer Forderung von Verbänden wie dem American Jewish Committee (AJC) nach, die ganz im Sinne der israelischen Regierung agieren. Frankfurt und München hatten jüngst ähnliche Schritte beschlossen.

Seine Koalitionspartner bringt Müller damit allerdings in ein Dilemma. Zwar genießt die Boykottkampagne der israelkritischen BDS-Bewegung (Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen) auch bei Grünen und Linken wenig Sympathien – Berlins Kultursenator Klaus Lederer (Linke) nannte sie sogar „widerlich“.

Doch ob beide Parteien deswegen gleich Raumverbote und Förderauflagen mittragen? Da gibt es schließlich noch die grundgesetzlich verbürgte Meinungsfreiheit. Ärger droht außerdem nicht nur mit Zensurgegnern in den eignen Reihen, sondern auch mit Gruppen wie der „Jüdischen Stimme für einen gerechten Frieden“ oder der „Jewish Antifa“ – linke Ex­israelis, die in der Hauptstadt gut vertreten sind.

Zu den Besonderheiten dieser Debatte gehört es nämlich, dass jene, die für eine härtere Gangart gegenüber Israel eintreten, nicht selten selbst jüdischer Herkunft sind. Bedauerlich ist es daher, dass sich der Zentralrat der Juden so einseitig zum Sprachrohr israelischer Regierungsinteressen macht.

Mit seinem Vorstoß hat Müller nun eine Debatte eröffnet. Das Simon-Wiesenthal-Center ist jetzt schon zufrieden. Gönnerhaft ließ es verlauten, Müller müsse nun nicht mehr fürchten, auf seiner Liste zu landen. Der Regierende Bürgermeister kann also aufatmen. Seine Stadt nicht.

Daniel Bax

Über die Grenzen des Üblichen

Attacke in Neukölln

Es waren die Christen, die sich ausdachten, dass Sex keinen Spaß machen darf

In Berlin geht alles und schon gerade in Neukölln: Die Stadt der Verrückten sind wir schon seit einer Operette des 19. Jahrhunderts, heute heißt das Diversity und zieht Menschen aus aller Welt in die tolerante deutsche Hauptstadt. Leben und leben lassen lautet deren Devise oder, wie es vor noch längerer Zeit ein Preußenkönig – schon mit Blick auf Religion – sagte: Hier soll jeder nach seiner Façon selig werden.

Doch was diese Woche in Neukölln geschah, beult sogar die Grenzen des in Berlin Üblichen aus. Da stürmte laut Medienberichten eine „vollverschleierte Frau“ (dpa) in ein Bekleidungsgeschäft an der Sonnenallee und verprügelt dessen „arabischstämmige Verkäuferin“ (dpa), weil diese „Kopftücher und Dessous Seite an Seite“ verkaufe (Die Welt). Die Angreiferin, der im Handgemenge der Schleier verrutschte, habe blonde Haare, Hals-Tätowierungen und einen Nasenring getragen, zitiert das Magazin Focus die Bild-Zeitung.

Moment mal: What?!?

Der Reihe nach: Ein Geschäft in Neukölln zeigt im Schaufenster zwischen traditionellen arabischen Frauenkleidern und islamischen Kopftüchern eine Schaufensterpuppe in schwarzer, ketten- und nietenverzierter Netz- und Latexunterwäsche mit Handschellen am Arm. Klar, auch sexuelle Vorlieben stehen jedem frei, und unter Welt-Kollegen mag dies unter „Dessous“ durchgehen: zarter Besaitete wie Feministinnen oder Muslime können daran aber durchaus Anstoß nehmen.

Aber weiter der Reihe nach: Muslime? Handelte es sich bei der Angreiferin denn, wie die Berichterstattung nahelegt, um eine solche, die aus religiöser Rage gegen den Laden und die Verkäuferin losschlug? Man kann in Istanbul, in Teheran und in Neukölln ohne Weiteres verschleierte Frauen beobachten, die ohne Scheu mit Verkäufern die Preise von „Dessous“ (im Sinne lachsfarbener Spitzenunterwäsche) diskutieren. Es war das Christentum, das sich ausgedacht hat, dass Sex keinen Spaß machen darf – nicht der Islam. Tatoos dagegen und Piercings sind dem frommen Muslim verboten: Den eigenen Körper, Leihgabe Gottes, zu verstümmeln, ist haram.

Dass ausgerechnet die AfD gleich nach dem Vorfall mit einer Pressemitteilung reagierte („… nur ein Vorgeschmack auf das, was uns noch bevorsteht. Das Endstadium dieser Islamisierung lässt sich in Saudi-Arabien beobachten“) lässt am Ende auch noch in ganz andere Richtungen denken. Alke Wierth