Was wählen wir nur?

Fällt Ihnen die Entscheidung am Sonntag so schwer wie noch nie? Sie sind nicht allein. Zehn taz-Mitarbeiter lüften ihr Wahlgeheimnis und bekennen Farbe

Hallo, Katzenjammer„Wen wählst du eigentlich?“ Am liebsten gar nicht. Aber man will ja wenigstens nicht schuld daran sein, wenn Merkel gewinnt. „Schon klar – aber wen wählst du?“ Links geht nicht wegen Lafontaine, wer SPD wählt, bestätigt die unsoziale Agenda 2010, und die Grünen sind die opportunistischste Partei Deutschlands. „Sehr schöne Analyse. Aber wen wählst du?“

Gequältes Lächeln, hochgezogene Achseln, trüber Blick. Nie zuvor habe ich Leute, die sich als links bezeichnen, so verzagt erlebt. Nie zuvor bin ich selbst so ratlos gewesen. Erst ein paar Wochen ist das her. Dann wurde Angela Merkel im Wahlkampf kenntlich, zum Entsetzen ihrer Parteifreunde. Und plötzlich schmetterten die vormals Verzagten ihre jeweilige Wahlentscheidung fröhlich und selbstbewusst hinaus. Sie beschimpften sich nicht einmal gegenseitig dafür, SPD, Linke oder Grüne zu wählen.

Der Katzenjammer wird kommen. Aber ein paar Tage lang hat das alles richtig Spaß gemacht. Ich wähle übrigens SPD. Zum ersten Mal seit 1976.

BETTINA GAUS, 48,
POLITISCHE KORRESPONDENTIN

Die APO kommtMit meiner Erststimme habe ich kein Problem. Ich habe das Glück, im Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg zu wohnen, und kann deshalb den grünen Direktkandidaten Christian Ströbele wählen. Er ist einer der wenigen linken und glaubwürdigen Bundestagsabgeordneten. Umso mehr Probleme habe ich mit meiner Zweitstimme. Die vier etablierten Parteien unterscheiden sich nur noch graduell, gehen aber in die gleiche Richtung. Beispiele: In der Innenpolitik gilt die Maxime „Law and Order“, auch Rot-Grün hat den Lauschangriff nicht abgeschafft. Durch Rot-Grün ist die Bundeswehr wieder aktiv in internationale Kriegshandlungen eingebunden worden. Auch rot-grüne Wirtschaftspolitik ist auf Wachstumspolitik reduziert, die Zusammenführung von Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik hat nicht mehr Beschäftigung gebracht. Maximen der Finanzpolitik sind „Konsolidierung“, „Steuersenkung“, „Rückzug des Staates“. Das wesentliche Standbein des Sozialstaats, die Sozialversicherungen, hat Rot-Grün gegen die Wand gefahren: Wer, insbesondere untere den Jüngeren, kann denn nach den Maßnahmen der Agenda 2010 noch auf eine ausreichende Absicherung durch die Arbeitslosenversicherung sowie die gesetzliche Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung vertrauen?

Die einzige Partei, die das so auch benennt und eine Chance hat, in den Bundestag zu kommen, ist Die Linke.

Die Zeiten können nur besser werden. Sollte Schwarz-Gelb regieren oder es zu einer großen Koalition kommen, wird es hoffentlich eine starke parlamentarische Opposition und außerparlamentarische Bewegungen geben.

KONNY GELLENBECK, 50,
TAZ-GENOSSENSCHAFT

Eltern schwarz, ich rotIch habe schon gewählt – mit beiden Stimmen SPD. In meinem konservativen Elternhaus gibt es aber selten Diskussionen darüber, dass ich der Einzige in der Familie bin, der nicht die CDU wählt. Aber Studiengebühren und die Ansichten in der USA-Politik halten mich von den Christdemokraten fern. Ich frage mich auch manchmal, wie lange die andere Alternative zur SPD, die Linkspartei, Bestand hat. Ich finde es sehr bedenklich, wie sie versucht, mit einer Sprechblasenpolitik und einem sehr wackeligen Bündnis Prozente zu schinden. Die FDP inszeniert sich zwar nicht mehr so wie früher („Guidomobil“), aber ich kann sie dennoch nicht ernst nehmen. Und wenn ich mein Kreuz bei den Grünen machen würde, dann gäbe es ganz sicher öfter Diskussionen zu Hause, denn meine Eltern besitzen zwei Tankstellen.SASCHA BLÄTTERMANN, 21, PRAKTIKANT

Das kleinere ÜbelIch war noch nie so ratlos. Oder doch, einmal, als Erstwählerin. Damals stand Willy Brandt zur Wahl. Selbstverständlich war ich ein Brandt-Fan, aber da war ja noch seine Partei. Und wer Brandt wählte, wählte auch Wehner und Schmidt. Die Christdemokraten, gar die FDP kamen bei Prügelstrafe schon gar nicht in Frage, die Grünen gab es noch nicht. Ich war damals so stolz, endlich die politischen Geschicke des Landes mitbestimmen zu können – stattdessen lernte ich die Bedeutung eines Begriffs: das verdammte kleinere Übel.

Und heute? Die Auswahl ist größer – aber besser? CDU und FDP kommen bei Prügelstrafe schon gar nicht in Frage, bleiben drei angeblich linke Parteien. Zwei, die gemeinsam den Karren in den Dreck gefahren haben, und eine Alt-Männer-Truppe mit grauer Gewerkschaftsrhetorik. Irgendjemand wollte mir kürzlich weismachen, das verdammte kleinere Übel zu wählen – selbst fluchend und zähneknirschend – sei ein Zeichen politischer Reife. Ach, ja? Schon mal was von Politik als Kopf- und Herzenssache gehört?

BASCHA MIKA, 51, CHEFREDAKTEURIN

Eine Chance für MerkelKeine Frage: Schwarz-Gelb muss ran. Nur dann können Angela Merkel und Guido Westerwelle wirklich zeigen, dass auch sie keine neuen Arbeitsplätze zaubern, dass auch bei ihnen die Wohlhabenden weniger Steuern bezahlen dürfen, ohne etwas dafür zu tun – und dass Bürgerrechte noch weniger wert sein werden als bei Otto Schily. Das ist gut so. Es ist nämlich eine Chance – zu erkennen: Diese einfallslose Politik des Sozialabbaus und der Markthörigkeit lässt die Wirtschaft nicht wachsen und, schlimmer noch, sie spaltet die Gesellschaft. Die Sozialforschung hat schon in den Siebzigern erkannt, wie gefährlich eine solche Entwicklung ist. Es ist die Zeit der Radikalen und Extremisten. Deutschland blieben sie in seiner beispiellosen Erfolgsgeschichte bis auf einige Episoden in den Ländern erspart, weil das „Wirtschaftswunder“ Wohlstand für fast alle schuf – und weil es eine große Partei für den sozialen Ausgleich und Gerechtigkeit gab. Vielleicht erinnert sich die SPD dessen in der Opposition. Dann würde sie (auch mit den Grünen) wieder eine Alternative zu Schwarz-Gelb.

DANIEL HAUFLER, 44, REDAKTEUR

Sucht neue MehrheitDas Eine: weder Merkel noch (nach seinem Neuwahl-, Amts- und Wählermissbrauch) Schröder. Das Zweite: Je stärker sich in diesem Wahlkampf die alten Lager zurückbildeten, desto klarer wurde, dass dennoch keine alten Mehrheiten zustande kommen. Mathematisch ist morgen alles drin. Außer Rot-Grün. Rot-Grün ist vermutlich nie mehr drin. Das liegt nicht an den Grünen. Falls es für Schwarz-Gelb nicht doch reicht, ist die große Koalition zwar nahe liegend, aber nicht zukunftstauglich. Wir müssen neue Mehrheiten suchen. Jenseits des Eingeübten. Oder sogar neue Mehrheiten für eine bestimmte Politik jenseits einer schriftlich vereinbarten, festen Koalitionsmehrheit. Das Dritte: Es fällt mir schwer, es zuzugeben, aber mich hat in diesem Wahlkampf berührt: Fischer. Nicht Fischer, der staatstragend blickende Außenminister. Fischer, der Oppositionsführer gegen Ökologie- und Sozialstaatabbau. Rot-Grün ist tot. Fischer nicht. In den letzten Wochen wurde er Seele des kollektiven Gefühls jenseits von Schwarz-Gelb und großer Koalition.

PETER UNFRIED, 41,
STELLV. CHEFREDAKTEUR

Diesmal Rotwein?Wenn es geht, wähle ich grün. Schon aus Tradition. Gewohnheiten, das weiß man als gereifter Mensch, sind ja nichts Schlechtes. Man möbliert sein Ich im Laufe der Jahre mit Vorlieben und Abneigungen. Zu meinen Vorlieben gehören zum Beispiel Borussia Dortmund, Rheingau-Riesling, italenische Halbschuhe, Grüne wählen, Tagesthemen gucken – während Bayern München, Rotwein trinken, in Stiefeln rumlaufen, SPD wählen, heute journal gucken in mir eine solide Abneigung wecken. Diesmal werde ich gegen meine Gewohnheit verstoßen. Nicht, weil ich die Grünen nicht mag. Dass sie ohne meine Stimme mit 6 Prozent in die Opposition müssen, ist bedrückend. Trotzdem werde ich versuchen, SPD zu wählen, um sie in der großen Koalition zu stärken. Vielleicht schaffe ich das. Denn man muss sehr, sehr gute Laune haben und einen Tag erwischen, an dem man sehr vergesslich ist, wenn man SPD wählen will. Wahrscheinlich werde ich zu den 3 Prozent gehören, die sich erst in der Wahlkabine entscheiden. Und Linkspartei wählen.

STEFAN REINECKE, 46, REDAKTEUR

Grün an die Macht

Ich habe schon gewählt. Grün mit beiden Stimmen, weil ich immer noch das ökologische Thema für das wichtigste Zukunftsthema auf der ganzen Welt halte, das konjunkturell in Form von Naturkatastrophen oder Spritpreisen immer wieder auch auf den vorderen Seiten der Zeitungen seinen Platz findet. Diesem Thema wird im Unterschied zu den anderen Parteien nur von den Grünen ein Stellenwert eingeräumt. Deswegen wäre auch jede politische Konstellation, bei der die Grünen mitregieren, besser als andere für das Land. Nun sagen uns ja die Demoskopen voraus, dass die Grünen wieder in die Opposition müssen und eine schwarz-gelbe oder große Koalition kommen wird. Hier wäre unbedingt Schwarz-Gelb vorzuziehen, weil bei einer großen Koalition maximaler Einfluss der versammelten Verbandslobbyistenschaft von den Gewerkschaften bis zur Pharmaindustrie alle notwendigen und richtigen Reformen verhindern wird. Für die taz wäre eine große Koalition schlecht, weil die politische Auseinandersetzung angesichts einer schwachen und zersplitterten Opposition abflauen wird. Und die Beschreibung des weiteren Elends der SPD in einer großen Koalition unter dem Druck der Linkspartei ist für die taz auch nicht auflagefördernd.KALLE RUCH, 51,
GESCHÄFTSFÜHRER

Eine Stimme mehrDen Grünen ist viel Gutes zu verdanken. Vor allem Debatten, die ohne sie versandet wären. Um Krieg & Frieden (leider zugunsten eines selbstbesoffenen Pazifismus), die Homoehe (mit Rückgrat dem konservativen Mob gegenüber), das Staatsbürgerschaftsrecht (mit zu viel Multikulti) und Energiepolitik (hübsche Windräder). Sie sollte man wählen. Geht aber nicht. Die Ökolibertären, Gott sei Dank mit inzwischen geringstmöglichen Welterlösungsflausen im Parteikopf, hätten alles ohne eine kräftige Sozialdemokratie als solche nicht machen können. Und das heißt: Schröder und die Seinen brauchen eine Stimme mehr als Merkel und die Ihren. Ich werde SPD wählen. Opposition ist Mist. Wer glaubt, nur in unerhörter Lage sei Erneuerung möglich – wozu eigentlich? – verkennt die Leiden des Daseins als unwichtige. Die SPD hat die fähigeren Vorstellungen von moderner Familie und Bildung, nicht nur für Eliten. Der Tanker läuft noch längst nicht auf Reserve. Weiter so. Die Grünen könnten lernen, dass ein dünkelhafter Ton Strafe verdient: Die Ära der messianischen Mentalität ist vorbei. Erholsam, das.

JAN FEDDERSEN, 48, REDAKTEUR

Ich will allesIch wähle Doppelgrün. Schon aus Selbstschutz, für meinen Körper und meinen Geist. Ich ertrage die Neocon-Visagen von Kaudermerkelkoch & Co einfach nicht, ich mag sie nicht ansehen, ihnen nicht zuhören und schon gar nicht von ihnen regiert werden. Dieses pitbullartige, selbstgerechte, amnesische Wahlkampfgebaren, dieses Bärenfellverteilen vor der Wahl. Wenn Westerwelle Gerhard beschreit: „Das ist der nächste Außenminister!“, oder auf der CDU-Homepage die Sekunden bis zum Wechsel gezählt werden. Ihr „Arbeit hat Vorfahrt“ fühlt sich genauso an wie ein BMW, der an meiner hinteren Stoßstange klebt. Die tun so, als hätte Rot-Grün dieses Land von ihnen nur geliehen. Die Grünen in der Regierung haben manches falsch gemacht. Aber das manche Richtige ist genau in meinem Sinne. Ich bin mit Ökosteuer und Atomausstieg im Reinen. Den Irakkrieg findet inzwischen scheinbar auch Merkel falsch. Käfighaltungseier kommen bei uns nicht auf den Tisch und für gesundes Gemüse braucht es eben einen grünen Daumen. Weil ich das alles will, kann ich nicht „Gerd“ und erst recht nicht „Angie“ wählen.STEFANIE URBACH, 34,MARKETINGCHEFIN