Lesungen in Niedersachsen: Die Unbeirrtheit des Nacktmulls

Eliot Weinberger schreibt über ferne Kulturen und ihre überraschende Nähe und kennt sich mit chinesischen Herrscherdynastien und Woodstock aus

Warum wird Eliot Weinberger in Deutschland immer wieder auf Nacktmulle angesprochen? Foto: Thomas Park / dpa

Es gibt verschiedene mögliche Anfänge, über Eliot Weinberger zu schreiben. Über den schon beinahe wunderkindhaft wirkenden Schüler und Studenten, zum Beispiel, der sich später bemerkenswert präzise erinnert hat an die Momente, die Zufälligkeiten auch, in denen und durch die sich seine Interessensgebiete offenbarten. Mit 13 Jahren dachte Weinberger, dass er „vielleicht Archäologe werden würde, spezialisiert auf Mesoamerika“. Als Kind schon hatten ihn Ausgrabungen fasziniert, damals allerdings die des antiken Troja. Die Lektüre des Kinderbuches „The Story About Ping“ legte dann die Saat für ein lebenslanges Interesse an der Kultur Chinas.

Wer würde nicht gerne auf solche Zufälle im Lebenslauf hinweisen können? Beim Lesen in der Schulbibliothek fand Weinberger eines Tages zwischen den Seiten eines sehr dicken Buchs – vermutlich William H. Prescotts „History of the Conquest of Mexico“ – einen Zettel, darauf: Octavio Paz’ Gedicht „Sunstone“, im Original „Piedra de Sol“, übersetzt von Muriel Rukeyser. Der junge Weinberger sah, dass der Text auf dem Aztekischen Kalender basierte, und dachte sich: Darüber weiß ich schon was, also les’ ich das mal. „Es war das erste moderne Gedicht, das ich je gelesen habe“, sagte er später. „Es hat mein Leben völlig verändert – und mich dazu gebracht, selbst schreiben zu wollen.“

Als fremd wahrgenommene Kulturen und ihre Errungenschaften, Poesie, der Akt der Übersetzung: Im Rückblick fügen sich da schon etliche der Elemente zusammen, die immer wieder zum Tragen kommen in Weinbergers weiterem Leben. Spanischsprachige, später auch chinesische Autoren hat er dem amerikanischen Publikum nahegebacht, sei’s als Übersetzer, sei’s als Herausgeber von Anthologien. Die literarische Landschaft Nordamerikas hat er als eine „nationalistische“ bezeichnet – unter Hinweis auf die verschwindend geringe Zahl von Übersetzungen aus anderen Sprachen, die es dort in die Regale schaffen.

Den Zufall wird als typisch empfinden, wer Weinberger liest – oder ihm zuhört. Im deutschen Sprachraum ist er vor allem durch seine Essays aufgefallen. Soeben ist ein neuer Sammelband erschienen: Vogelgeister. Bei Weinberger bedeutet das eben immer wieder auch das überraschende Zusammentreffen von so nicht zusammen Erwartetem. Es können also die Themen sein, bei deren Auswahl Weinberger offensichtlich aus einem größeren, tieferen Kessel Buntes schöpfen kann als andere: Über chinesische Herrscherdynastien hat er geschrieben und über Hochzeitsmythen aus dem nördlichen Indien, aber auch über Occupy Wall Street, die Memoiren von US-Präsident George W. Bush oder – kein Witz – den Nacktmull, wie er unbeirrt ein Leben lebt, während sich über seinem Kopf, an der Oberfläche, die Menschen gegenseitig massakrieren.

Das wäre so ein anderer Einstieg, über den 1949 in New York City geborenen Weinberger zu sprechen: die Form, dieser nur scheinbar verschwindende Unterschied zwischen einer Lehrbuch-Idee, davon, wie ein Essay zu sein hat, und dem, was er damit anstellt: „Statt Schlüsse zu ziehen für seine Leser, lässt er Informationen ihr eigenes Argument werden“, so umriss es im Vorjahr ein australischer Rezensent. Heraus kämen „verrätselte“ Texte mit offenem Ende.

„Ich erfinde nichts“, hat Weinberger selbst einmal eine der „Faustregeln“ seines essayistischen Schreibens gefasst. „Alles ist unabhängig überprüfbar.“ An anderer Stelle sagte er, er schreibe Essays wie andere Poesie: „Ich höre den Sätzen zu und interessiere mich für etwas Musikalisches. Ich vollziehe Sprünge, ohne notwendigerweise alles dazwischen auszufüllen.“ Dem englischsprachigen Essay bescheinigt er, allzu sehr verhaftet zu sein in Ideen des 19., gar 18. Jahrhunderts. Nie habe diese Textart eine Avantgarde-Bewegung erlebt, anders also als die Poesie, das Drama oder auch der Roman – und viel zu sehr setzten die meisten Autoren auf die Ich-Perspektive.

Die scheut Weinberger beinahe kategorisch: Er habe in der zurückliegenden Stunde öfter das Wort „ich“ benutzt als in sämtlichen seiner Texten, hat er mal auf irgendeiner Bühne gesagt, und man ist versucht anzunehmen, dass das einer Prüfung sogar Stand hielte. Manchmal scheint er sich als Autoren sogar noch weiter zurückzunehmen: Dann montiert er, collagiert, verdichtet. Sein vielleicht meist beachteter Text war so eine literarische Collage: „What I Heard About Iraq“, 2005 zuerst in der London Review of Books veröffentlicht, und bald auch in Lettre International auf Deutsch. Darin reihte Weinberger authentische Aussagen aus der Zeit des Irakkriegs aneinander, von mehr oder minder prominenten Sprechern. Es wurde der meistaufgerufene Text im Online-Angebot der London Review, es diente Bühnenbearbeitungen und Kunstwerken zur Vorlage.

Bei der Wahl seiner Themen schöpft Weinberger aus einem größeren, tieferen Kessel Buntes als andere

Aus der Zeit, in der er das vielfältige Material sammelte, rührt wohl auch Weinbergers mitunter naiv wirkende Begeisterung für das Internet her: Schließt man sich seiner Darstellung an, wonach die US-Medienlandschaft damals, post 9/11, „der in der Sowjetunion“ geähnelt habe – insofern als sie nur gebracht hätte, was die Regierung veröffentlicht haben wollte, dann vollzieht man vielleicht auch nach, warum einer da so unbekümmert von den alternativen, den eigentlichen Nachrichten im Internet schwärmt. Wie er zu den jüngsten Befunden zu Fake News und Filterblasen steht, das könnte man ihn vielleicht fragen, wenn er nun auch in Hannover und Göttingen auftritt.

Es gibt in seinem Werkverzeichnis noch so ein viel beachteten, vielleicht nicht durchweg auch verstandenen Eintrag: eine Art stark erweiterte Rezension der 2011 erschienenen Memoiren des vormaligen US-Präsidenten George W. Bush – gelesen aber mit einer poststrukturalistischen, einer ausdrücklich Foucault’schen Perspektive. Dass so ein Ex-Präsident nicht unbedingt selbst verfasst haben muss, wo sein Name drauf steht, ist das eine. Im Falle Bushs aber, an dessen (vermeintlichen) Erinnerungen gleich eine ganze Handvoll anderer schrieb, ließen sich Fragen von Autorschaft und Authentizität nochmal funkensprühender verhandeln – und, wieder einmal, überraschender.

Man muss ja nicht gleich die Redensart vom missachteten Propheten bemühen: Dass er anderswo bekannter sein könnte, seine Texte mehr beachtet werden als zuhause, das ist eine reale Größe für Eliot Weinberger. Übersetzt in rund 30 Sprachen, erschienen viele seiner Texte zuerst in ausländischen Publikationen, seit 1995 etwa auch auf Deutsch in Lettre International. Wer sich für die politischeren Stücke interessierte, den musste der Autor höchstselbst versorgen – per E-Mail. So erschienen auch seine Beobachtungen aus dem letzten US-Präsidentschaftswahlkampf nicht in den USA, sondern zunächst in Großbritannien.

Auch in Berlin ist er ein gern gesehener Gast: Bei stolzen 13 der insgesamt 17 bisherigen „Internationalen Literaturfestivals“ stand er dort auf dem Programm. Auch jetzt gerade wieder las er nicht nur, sondern musste im einen oder anderen Diskussionsforum den Europäern erklären, was seine Landsleute nun schon wieder gemacht haben. Ob er dabei immer noch so regelmäßig nach jenem Text über den Nacktmull gefragt wird, dessen Popularität gerade bei deutschen Lesern und Zuhörern ihn immer wieder so erstaunt hat?

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