Zu Unrecht am Pranger

Birma Menschenrechtler machen es sich mit den Vorwürfen gegen Aung San Suu Kyi zu bequem. Viel kann sie derzeit für die Rohingyas nicht tun

Andreas Lorenz

Foto: Anja Weber

Jahrgang 1952, war lange Jahre ­Auslandskorrespondent des Spiegels, unter anderem in Südostasien. Er ist Autor der Biografie: „Aung San Suu Kyi – Ein Leben für die Freiheit“ (C. H. Beck ­Verlag).

von Andreas Lorenz

Der Mann hat Blut an den Händen: Min Aung Hlaing, Oberbefehlshaber der Armee Birmas. Seine Leute ermorden Zivilisten, vergewaltigen und brandschatzen – nicht nur an der Westgrenze des Landes, wo in den letzten Tagen wohl über 400.000 Menschen der muslimischen Minderheit, der Rohingyas, über die Grenze nach Bangladesch flohen. Auch bei Kämpfen gegen andere Minderheiten sind seine Soldaten für ihre Brutalität gefürchtet.

Gleichwohl hat die deutsche Regierung dem General im April dieses Jahres den roten Teppich ausgerollt. Eine Ehrengarde der Bundeswehr präsentierte das Gewehr, der Generalinspekteur empfing ihn zum freundlichen Gespräch. Auch der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Markus Ederer, traf den mächtigen General zum munteren Gedankenaustausch. Dann ging es zu einer Rüstungsfirma in Süddeutschland – Geschäfte mit einer ­Armee, sei sie noch so verrufen, sind doch immer etwas Schönes. In der Öffentlichkeit blieb es damals ruhig.

Die Lady steckt in der Klemme

Heute hingegen ist allenthalben heftige Kritik zu hören – die sich aber nicht vorrangig gegen die Militärs, sondern gegen die Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi, 72, richtet. Der Vorwurf: Die Staatsrätin und Außenministerin ignoriere das grausame Geschehen im Rakhine–Bundesstaat oder spiele es herunter. Sie, die ihr Leben einst Freiheit und Demokratie gewidmet habe, die selbst 15 Jahre von den Generälen gefangen gehalten wurde, sei nun eine zynische Machtpolitikerin geworden – eine gefallene Heldin, der man schleunigst den Nobelpreis aberkennen solle.

Auch nach ihrer Rede gestern, in der sie „alle Menschenrechtsverletzungen und unrechtmäßige Gewalt“ verurteilte, dürfte die Kritik nicht abebben. Denn Aung San Suu Kyi mied es, das Militär zur Ordnung zu rufen. Amnesty International reagierte entsprechend empört: Sie stecke den „Kopf in den Sand“.

In einem haben die Kritiker recht: Aung San Suu Kyi ist keine Dissidentin mehr, sondern pragmatische Politikerin. Aber sie springen zu kurz, sie übersehen in ihrer Enttäuschung die prekäre politische Gemengelage in Birma: „Die Lady“, wie die Birmesen sie nennen, steckt in einer furchtbaren Klemme. Vor allem aber kann sie sich nicht offen auf die Seite der Rohingyas stellen und das Militär verurteilen, wenn sie nicht ihr Lebensziel aufs Spiel setzen will: ein demokratischeres Birma ohne eine Vormachtstellung der Armee. Täte sie, was ihre Ankläger verlangen, wäre ihre politische Karriere am Ende – und im schlimmsten Falle auch ihr Leben.

Birma ist buddhistisch geprägt, viele sind zutiefst gläubig. Schon im vorigen Jahrhundert hatte sich besonders in unsicheren Zeiten der Zorn der Bürger auf die kleine muslimische Minderheit gerichtet. Derzeit kochen nationalistische und rassistische Mönche besonders eifrig ihr Süppchen: Schuld an der Misere im Land, behaupten sie, seien die Muslime, die nichts anderes im Sinn hätten, als die Buddhisten aus dem Land zu drängen – indem sie buddhistische Frauen heirateten und viel mehr Kinder als die Buddhisten in die Welt setzten.

Der Hass sitzt so tief, dass Aung San Suu Kyi 2015 bei den ersten demokratischen Wahlen seit langer Zeit keine Muslime als Kandidaten aufstellen ließ, weil sie um ihren Erfolg fürchtete. Dass sie als streng gläubige Buddhistin Muslime verachte, wie manche behaupten, ist indes Unsinn: Ihr Leibarzt und Vertrauter war lange Chefchirurg eines muslimischen Krankenhauses, ihr juristischer Berater ein Muslim. Er wurde jüngst am Flughafen von Yangon erschossen.

Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Militärs die Lage im Rakhine-Bundesstaat nach den Attacken einer muslimischen „Heilsarmee“ auf Militärposten absichtlich anheizen, nicht nur um die Rohingyas zu vertreiben, sondern auch um Aung San Suu Kyi und ihre Regierung zu destabilisieren.

Die politische Geschichte des Landes, schreibt Foreign Affairs, ist „gepflastert mit feindlichen Übernahmen“. Aung San SuuKyi wisse um die Bedeutung, „einen noch so unvollständigen zivilen Anteil an der Macht zu erhalten“. Dabei hat sie etwas getan, was den Uniformierten nicht in den Kram passt und was ihre Kritiker jenseits der Grenzen von Myanmar ignorieren: Sie holte eine UN-Untersuchungskommission unter dem früheren UN-Generalsekretär Kofi Annan ins Krisengebiet. Die Annan-Leute rieten unter anderem dringend dazu, die Lage der Rohingyas wirtschaftlich zu verbessern und ihnen endlich Bürgerrechte zu gewähren. Was tat Aung San Suu Kyi? Sie kündigte an, die Ratschläge umzusetzen.

In einem haben die ­Kritiker recht: Aung San Suu Kyi ist jetzt keine Dissidentin mehr

Mit dem Teufel verbündet

Ein anderes Vorhaben wurmt die Militärs noch mehr: Aung San Suu Kyi hat ihr Ziel nicht aufgegeben, dem Land eine neue Verfassung zu geben, die die Macht der Armee beschneidet. Die heutige Verfassung sichert ihr die Kontrolle über Außen- und Innenministerium sowie die Grenztruppen zu. 25 Prozent aller Sitze im Parlament sind für Soldaten reserviert.

Aung San Suu Kyi aber will die Offiziere zurück in die Kasernen schicken. Den Mord an ihrem muslimischen Berater konnte sie deshalb nur als Warnung verstehen: „Finger weg von den Militärs! Finger weg von der Verfassung!“ Nun verliert sie Sympathien in der Welt. Womöglich ist ihr das egal, Weggefährten halten sie zunehmend für autoritär und beratungsresistent. Sie verehrt ihren Vater Aung San, den Nationalhelden, der dem Land die Unabhängigkeit von den britischen Kolonialherren führte – indem er sich unbeliebt machte: Im Zweiten Weltkrieg hatte er sich sogar mit den militaristischen Japanern zusammengetan und ihre Uniform angezogen.

Die Tochter hat sich ebenfalls mit dem Teufel verbündet und einen hohen Posten trotz der Vormachtstellung der Militärs akzeptiert – in der Hoffnung, sie irgendwann auszumanövrieren. Gefährdet sie nun ihre Strategie, in dem sie sich dem Willen ihrer Kritiker beugt, wäre womöglich alles umsonst gewesen – das große Opfer jener oppositionellen Birmesen, die während der Diktatur gefoltert oder ins Exil getrieben wurden, und die Opfer, die sie in ihrem eigenen Leben gebracht hat.

Ihr Vater Aung San hatte am Ende Erfolg: Die Briten zogen 1948 ab. Er erlebte dies allerdings nicht – er wurde kurz zuvor ermordet.